Was bisher geschah: Ein feministisches Theaterkollektiv rettet im Kulturjahr 2020 Projekt Die Stadt der Rabtaldirndln Graz. Graz in der nahen Zukunft. Es ist dunkel geworden. Die Politik hat versagt.
In der soziologischen Begleitung haben wir bisher gefragt, ob Graz eine Stadt der Frauen ist. Nun, wir können sagen, dass die Voraussetzungen dafür vorhanden gewesen wären – nicht zuletzt mit dem 1987 geschaffenen Grazer Frauenrat –, doch dann stand Frauenpolitik immer weniger auf der politischen Agenda. Auf der Agenda Graz 22 – der politischen Vision für Graz – steht sie nun gar nicht mehr. Nur noch von Familienpolitik wird gesprochen. Frauen sind indessen immer noch mit den gleichen Diskriminierungserfahrungen konfrontiert[1].

Dann sollte geprüft werden, ob Graz eine Stadt der Verbote sei. Ein kurzer Blick auf die städtischen Gesetze und Verordnungen verdeutlichen, dass insbesondere im Themenfeld Sicherheit aufgerüstet wurde. Zwischen 2007 und 2012 verortete die Stadtpolitik Alkoholverbotszonen in drei Stadtteilen[2] und die Straßenmusikverordnung, einige Jahre später folgten Schutzzonen[3] in drei Grazer Parks[4][5].
In der Auseinandersetzung mit den politischen Visionen für Graz rückte die Smart City Graz 2050 (bzw. die Planung von fünf Smart City Stadtteile) in den Fokus der Betrachtung. Mittels einer Textanalyse[6] war aufzuzeigen, dass die Stadtpolitik das Grazer Zukunftsbild als vornehmlich eines im internationalen ökonomischen Wettbewerb befindliches erfasst; visioniert als ein Leuchtturm-Projekt. Bürger*innen-Beteiligung wird weniger gesehen in der Phase des Nachdenkens, Ausverhandelns und Konzipierens, sondern (maximal) in der Umsetzung; dann also, wenn politisch bereits entschieden wurde[7].
Woraufhin in Anlehnung an das Kulturjahr 2020 Motto soziologisch überhaupt erst zu fragen war: „Wer ist WIR und was ist LEBEN?“[8]
Womit unweigerlich noch nachzuspüren ist, ob Graz als Stadt des Zivilen Ungehorsams zu bezeichnen ist. Denn bisher könnte der Eindruck entstehen, in Graz gibt es so etwas nicht. So viel sei vorweggenommen: Das stimmt nicht.
Diese Frage ist außerdem im Weiteren dann von entscheidender Relevanz, wenn wir uns zugleich fragen, ob das (Off-)Theater politisches Potential besitzt. Darüber sollte gerade in einer Zeit der Krise(n) (und gibt es eine solche nicht immer?) diskutiert werden. Die Politikwissenschaftlerin Margot Morgan konstatiert 2013:
„Today it is simply taken for granted, even among most academic scholars, that politics is politics, and art is art, and the two domains share no obvious or essential connections. But this was not always so.“[9]
Morgan bringt damit einen kritischen Punkt in die (viel zu wenig intensiv geführten) Debatte ein, die sich in der Corona-Pandemie unweigerlich entspinnen musste. Wie wir mit Kunst und Kultur in einer Gesellschaft umgehen, ist ein Ausdruck auch für demokratiepolitische Festigung und die Offenheit, in die Zukunft zu blicken und unsere grundlegende Bereitschaft, anders/neu/facettenreich über die Gegenwart und die Zukunft nachzudenken. Über parteipolitische Visionen hinaus. Wenn wir Kunst und Politik (wieder) zusammendenken, kann Theater ein Ausdruck, eine Bühne und ein Wegbereiter Zivilen Ungehorsams sein.
Während nun (politisch-forcierte) Bürger*innen-Beteiligung ein Schlagwort en vogue ist, ist ihre Umsetzung eher weniger erfolgreich bisher, das gilt insbesondere für Graz. Spuren zivilen Ungehorsams indessen lassen sich zahlreich finden. Sie alle anzuführen, sprengte natürlich den Rahmen. Wohl zu den bekanntesten in den vergangenen Jahren zählt die Community „Rettet die Mur“[10], um nur ein Beispiel zu nennen. Zunächst aus der ungehorsamen Praxis und widerständischen Aktionen entstanden, professionalisierte sich die Bewegung bzw. Plattform in den vergangenen Jahren kontinuierlich. Im Zuge der Auseinandersetzungen reagierte die Energie Steiermark AG, Betreiberin des Murkraftwerks, mit einem „Dialogbüro Murkraftwerk Graz“[11] und verstärkten gemeinsam mit der Stadt Graz die Marketingkampagnen[12]. Das Theater im Bahnhof nahm den Diskurs zwischen Zivilbevölkerung, Politik und Wirtschaft im Stück „Der Bau“ auf und thematisiert u.a. das beinharte Geschäft einer politischen Koalition, die Instrumentalisierung in der Politik und das Problem blinder ideologischer Hingabe[13]. Das Stück besuchten Gegener*innen wie Befürworter*innen des Murkraftwerks.

Der Zivile Ungehorsam poppt lokal auf, wenn umstrittene politische Entscheidungen getroffen bzw. bekannt werden, ist aber nicht nur eine temporäre Erscheinung und hat über die virulente Verbreitung mittels Sozialer Medien schnell die Dynamik globaler Social Movements erreicht[14]. Wenngleich es natürlich zwischen Zivilem Ungehorsam und Social Movements in der Definition genauer zu unterscheiden gelte, gehen wir für unseren Zweck an dieser Stelle jeweils von politischen Handlungen aus (einer „collective action“ und „collective behavior“). Das Theater vermag es dann wiederum als „collective action“ – wie u.a. das Beispiel „Der Bau“ zeigt –, diese Dynamiken rasch aufzugreifen und neue, kritische Perspektiven darauf zu eröffnen, weiterzudenken und im besten Falle neue Diskurse und Handlungsräume zu ermöglichen – und damit wiederum praxiswirksam zu werden.
EXKURS: DER ZIVILE UNGEHORSAM
Über Zivilen Ungehorsam kann aber nicht (soziologisch) gesprochen werden, ohne sich mit dem Begriff etwas näher zu beschäftigen. Zahlreiche Wissenschaftler*innen haben sich mit dem Zivilen Ungehorsam auseinandergesetzt, allen voran der US-amerikanische Philosoph John Rawls. Politikwissenschaftlich wird der Zivile Ungehorsam als ziviles Korrektiv nach Rawls in drei theoretische Fragestellungen gegliedert: Der Definition, der Rechtfertigung[15] und der Funktion. Wesentlich ist die Erkenntnis, dass im Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis immer die Praxisform des Zivilen Ungehorsams an erster Stelle, also vor der Theoriebildung steht. Die Entwicklung, bzw. besser der Prozess des Zivilen Ungehorsams ist in diesem Modell in drei Phasen eingeteilt: (1) der Paradigmenphase im Zuge der Bürgerrechtsbewegungen in den USA, in der sich der Zivile Ungehorsam als Handlungs- und Partizipationsform in „Massendemokratien“ formierte, und in der kritischen Auseinandersetzung mit der „Law and Order“ Politik erblühte, (2) die Transferphase und (3) die anti-postdemokratische Phase. Ziviler Ungehorsam definiert sich nach Rawls als gewaltlos, transparent-öffentlich und zugleich als gesetzwidrige Handlung zum Zwecke, eine politische Änderung zu bewirken[16][17].
(Off-)Theater kann im Sinne dieser Kriterien – im Sinne des Modelles des Zivilen Ungehorsams – insbesondere als Praxisform verstanden werden (in der die „gesetzwidrige Handlung“ wahrscheinlich nicht vollbracht, aber gedacht/visoniert/imaginiert wird). Wenn wir aber noch einen Schritt davor denken, dann ist es in erster Linie die Entstehung einer (Off-)Theaterproduktion, die uns darüber besonders viel verdeutlichen kann (wie auch das Danach von Interesse ist). In dieser Hinsicht sind alle Einladungen zu begrüßen, eine solche Produktion wissenschaftlich zu begleiten und einen Dialog zwischen Kunst und Soziologie voranzutreiben. Das erste Bestreben dabei sollte jedoch stets sein, Kunst und Kultur so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Zugleich bedarf es – wir blicken noch einmal auf die aktuelle Situation – der Sicherung existenzieller Bedürfnisse aller Kunstschaffenden, ohne dass wir sie zu Almosenempfänger*innen degradieren. Auch dafür bedarf es im Falle Zivilen Ungehorsam.
In die Stadt der Rabtaldirndln werden eine Vielzahl sozial-kritischer Entwicklungen aufgegriffen und in Form einer Dystopie dem Publikum ganz im Glanze und im Widerschein der städtischen Eventisierungstendenzen als Action-Movie-Performance vor Augen gebracht. Aber das Stück kann noch mehr. Das Publikum ist Teil dieser Produktion und damit aktive Akteur*innen. DAVOR durch diesen Blog, WÄHREND und im besten Falle NACH der Performance. Dann, wenn WIR weiter über Graz nachdenken.
Karin Scaria-Braunstein
Die Stadt der Rabtaldirndln, Premiere am 14.09.2020. Alle Infos unter: https://dierabtaldirndln.wordpress.com/
[1] Siehe Blog1
[2] Mondscheingasse 2007; Univiertel 2009; Innenstadt 2012
[3] Die Verordnungen der Schutzzonen fallen nicht in das Themenfeld Sicherheit, aber in die Zuständigkeit des Referats „Sicherheitsmanagement und Bevölkerungsschutz“. Siehe: https://www.graz.at/cms/ziel/7747784/DE
[4] Metahofpark, Volksgartenpark, Stadtpark
[5] Siehe Blog2
[6] Ideenbilder nach der Critical Method von Kenneth Burk
[7] Siehe Blog3
[8] Siehe Blog3,5
[9] Morgan, Margot (2013) Introduction: Political Theater and the Theater of Politics. In: Politics and Theater in Twentieth-Century Europe. Critical Political Theater and Radical Practice. New York: Palgrave Macmillan.
[10] Siehe: http://www.rettetdiemur.at/
[11] Siehe: http://www.murkraftwerkgraz.at/
[12] Die Geschehnisse und der Verlauf ist hier sehr reduziert dargestellt. Interessierte können sich aber über die angeführten Webseiten und wenig aufwendige weitere (Medien-)Recherchen schnell ein umfangreicheres Bild zur Causa machen.
[13] Siehe https://www.theater-im-bahnhof.com/de/production/der-bau ; sowie https://reflay.com/2018/05/26/der-bau-ein-stueck-ueber-die-missstimmige-symphonie/
[14] Zu denken ist dabei insbesondere an #Movements wie #metoo oder #blacklivesmatter.
[15] Die Frage nach der Legitimation ist auch eine entscheidende in der Social Movement Forschung
[16] Zu diesem Modell gibt es sowohl von den konservativen als auch den politisch-linken Rängen Kritik. Letztere sehen im Synonym „Bürgerlicher Ungehorsam“ u.a. das Problem verdeutlicht, dass Strukturen und Machtverhältnisse nicht (hinreichend) hinterfragt werden und damit Ursachen nicht im Fokus stehen. Siehe: Braune, Andreas (2019) Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy. Reclam. Dies gilt es gewiss auch zu hinterfragen, wenn wir auf das (Off-)Theater blicken und darauf, wer in den (kulturellen) Prozess in- und wer exkludiert wird.
[17] Siehe zum Modell: Braune, Andreas (2019) Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy. Reclam.