„Du-du-du, das darfst du nicht!“

Vom Zauber, ästhetischer Distanz, einer theatralen Henne-Ei-Frage und gesellschaftsrelevanten Ver(un)möglichungen.

Karin Scaria-Braunstein im Gespräch mit
Verena Kiegerl: Regisseurin, Dramaturgin & Theaterpädagogin

Präludium: Frühsommer 2018 im Ennstal. Ein Bahnhofsrestaurant entpuppt sich als kulinarischer Clou. Das Gespräch findet bei Kaffee neben Schienen statt.

Karin: Zu Beginn eine ganz allgemeine Einschätzung vor dir: Welche Stellung hat die Kunst in der Gesellschaft?

Verena: Das ist wohl sehr unterschiedlich. In der Stadt hat es einen anderen Stellwert als am Land, da sind andere Kunstformen relevant. Und generell hab ich das Gefühl, dass es weniger ist, als es einmal war. An den Theatern sind zum Beispiel immer mehr Theaterpädagogen engagiert, um Schulen an die Häuser zu binden, weil die Eltern mit den Kindern nicht mehr ins Theater gehen. Oder zumindest nicht mehr so, wie es früher war, glaube ich.

Karin: Was meinst du, woran das liegt?

Verena: Ich glaub‘ zum einen hat es schon mit den neuen Medien zu tun, dass die Jugendlichen sich für andere Dinge viel mehr interessieren und sich dafür vielleicht auch schwerer begeistern lassen. Also damals war das vielleicht – was heißt damals, wir reden da von den 40er oder 50er Jahren – wo die Phantasie, das Eintauchen in eine phantastische Welt noch nicht über das Fernsehen oder das Internet gelaufen ist, sondern schon noch ganz stark über das Live-Erlebnis im Theater. Und der Zauber des Theaters. In meiner Kindheit war das auch noch so. Wenn du in die Oper oder ins Theater gegangen bist, dann war das ganz etwas Besonderes. Weil du dort halt Dinge gesehen hast, die du sonst nie gesehen hast. Mittlerweile, glaub ich, ist das anders, weil du sowieso schon alles im Internet sehen kannst und auf einem Niveau, – da kann das echte Theater oft gar nicht mehr mit, mit den Special Effects und den Wirkungen.

Karin: Was ist der Zauber des Theaters für dich?

Verena: Für mich ist es schon dieses Live-Erlebnis, wo ich halt wirklich Anteil nehmen kann an dem, was gerade passiert. Dass ich in dem Moment mittendrin und live dabei bin. Und wenn es mich berührt, das ist für mich der Zauber. Wenn ich verwandelt werde im Theater; wenn ich mit einer anderen Stimmung rein geh als ich raus komm.

Karin: Wann bist du berührt?

Verena: Ein Regisseur hat einmal gesagt – das hat mir ziemlich gut gefallen – Theater ist dann Kunst oder dann lebendig, wenn man etwas erkennt. Wenn man wiedererkennt, was da verhandelt wird. Ein Bezug zu dir oder der Gesellschaft. Ein Mechanismus, der dich betrifft, in irgendeiner Art und Weise. Das kann alles sein, ein romantisches Drama genauso wie ein gesellschaftspolitischer Protest. Es berührt mich dann, wenn es etwas mit mir, mit meiner Lebenswelt oder einem Konflikt von mir zu tun hat. Etwas, was mich beschäftigt.

Karin: Du entwickelst selber Theaterprojekte, führst Regie. Was bewegt dich in deiner Arbeit?

Verena: Ich würde sagen, das sind zwei Dinge: Der Inhalt und die Form, bzw. die Umsetzung. Inhaltlich bin ich drauf gekommen, dass es für mich nur Sinn macht, wenn es mich interessiert. In der Erfahrung habe ich gemerkt, dass für mich Auftragsprojekte schwieriger sind, bei denen ich suchen muss, was mich persönlich anspricht. Leichter ist es, wenn es etwas ist, was in mir brennt. Und formal ist es in erster Linie spannend, immer von den Menschen auszugehen, mit denen ich arbeite, egal, ob das Profis sind oder Laien. Mich interessiert in erster Linie einmal, wer diese Leute sind, mit denen ich arbeite und was sie mitbringen. Sowohl ästhetisch als auch von ihrer Persönlichkeit. Und ich finde es super spannend, die Talente und die Möglichkeinen herauszukitzeln und gemeinsam in einen Prozess zu gehen; mehr als ganz klar meine Ideen zu verwirklichen oder umzusetzen. Ich merke, dass ich ganz viel Input bekomme von den Leuten, mit denen ich arbeite. Egal ob auf oder hinter der Bühne. Und Authentizität ist für mich an oberster Stelle.

Karin: Authentizität – wie würdest du das beschreiben?

Verena: Ob das, was die Menschen auf der Bühne tun glaubwürdig ist. Es kann kunstvoll sein, aber es soll nicht gekünstelt sein. Ich kann schlecht Schauspielern zuhören, die nur daran denken, wie sie den Text gestalten und nicht daran, was sie sagen. Und das gibt es auch bei Profis, da reagiere ich sehr sensibel drauf. Da kann das noch so eine tolle Inszenierung sein, da bin ich sofort abgeturnt.

Karin: Die Ästhetik im Theater – Wann ist sie Mittel, wann ist sie Ziel?

Verena: Das Ziel von Ästhetik ist eine Abstrahierung, eine Form zu finden, die weit genug weg ist, um Empathie und um Andocken zuzulassen. Wenn es 1:1 ist, geht man eher auf Abstand. Die Ästhetik hilft da sehr, von einer persönlichen und vielleicht platten Ebene wegzukommen, in etwas Abstrakteres, etwas Ästhetischeres, wo ich als Zuschauer mehr Emotionen zulassen kann. Und ich finde Ästhetik ganz wichtig, um alle Sinne anzusprechen, eben nicht nur den Intellekt. Der Sinn für die Ästhetik ist eben das Schöne. Ästhetik musst du bilden. Es gibt keinen Sinn für Ästhetik, mit dem du geboren bist. Es gibt unterschiedlichen Geschmack, aber der wird geprägt. Sinn für Ästhekit muss wie eine Handschrift erlernt werden. Schreiben lernen muss jeder. Dass du eine charakteristische Handschrift entwickelst, deine Handschrift deinen Charakter zeigt, das ist bei der Ästhetik nicht anders. Du kannst irgendetwas auf die Bühne stellen, aber ob es dann ästhetisch ist, weiß ich nicht.

Karin: Nähe zum Inhalt und gleichzeitige Distanz durch Ästhetik. Was entwickelt sich bei der Inszinierung eines Theaterstücks zuerst, die Nähe oder die Distanz?

Verena: Das ist eine gute Frage. Bei mir ist es unterschiedlich. Manchmal interessiert mich der Inhalt, manchmal die Form mehr. Im Idealfall schafft man es, beides gleich ernst zu nehmen. Es kommt auch darauf an, mit wem man arbeitet. Wenn ich mit Laien arbeite, geht es vielleicht mehr darum, die Position auf der Bühne zu entwickeln und formale Formen zu entwickeln, die das unterstützen.

Karin:  Also würdest du in der Zusammenarbeit mit Laien doch zunächst auf den Inhalt achten?

Verena: Ich habe in meiner Arbeit mit Laien die Erfahrung gemacht, dass sie sobald sie eine Form bekommen auf der Bühne, und das ist eigentlich immer eine ästhetische Form, sie viel besser, viel authentischer wirken als wenn man sie einfach lässt. Aber der Inhalt muss da sein, sie müssen wissen, was sie tun auf der Bühne, was sie inhaltlich tun. Und an der Form können sie sich festhalten, das gibt Sicherheit. Es ist etwas, was Schutz bietet, weil sie in einem ästhetischen Mantel sind und sich in Bezug auf die Nähe zum Publikum nicht entblößen müssen. 1:1.

Karin: Entwickelt sich das parallel oder reichst du ihnen den Schutzmantel schon vorab?

Verena: Ich improvisiere immer zunächst, das ist total echt, Situationsimprovisationen, und daraus  versuche ich, eine Abstraktion zu schaffen. Indem ich die Texte kürze oder verschärfe. Aber der Inhalt muss immer noch stark genug da sein und von den Laien getragen werden. Mit Laien wäre es mir persönlich zu wenig, wenn es nur ästhetisch wäre.  Mit Profis ist das anders. Da kann ich mir durchaus gut – und das hat mich selber überrascht – Stücke anschauen, die wenig Inhalt haben, wo ich den Sinn nicht erkenne, die nur ästhetisch ansprechnd sind, ich kann das sehr genießen.

Karin: Fällt dir ein konkretes Beispiel ein?

Verena: Beim letzten spleen*graz wurde das Eröffnungsstück genau deswegen diskutiert, das hat sehr polarisiert. „Was wollten die überhaupt“, „die wollten ja nichts“, „da wird die Virtuosität so gefeiert“, „das ist so eitel“ – und ich habe das überhaupt nicht so empfunden, ich habe sehr gerne zugeschaut, dem Können gerne zugeschaut. Das hatte für mich genug Witz und genug Bruch, dass es nicht eitel war.

Karin: Wird das diskutiert im Theaterwesen?

Verena: Ja, es wird alles zerrissen und alles diskutiert.

Karin: Gibt es derzeit ein großes Thema?

Verena: Global kann ich es nicht sagen, in meiner Theaterszene aber schon. Da ist es manchmal schade, weil man als Theaterschaffende oft gar nicht mehr die Möglichkeit hat, sich etwas ungefiltert anzuschauen und daher viel seltener verzaubert wird als jemand, der sich nicht so damit auseinandersetzt. Du stellst dir immer die Frage: wie haben die das gemacht? Was sind die Hintergründe?  Weil man viel kritischer ist. In meinem Umfeld geht es um Authentizität, künstlerische Hochwertigkeit. Gerade im Kinder- und Jugendtheater ist die Diskussion oft, dass dieses Theater kein kindisches sein muss. Und Kinder und Jugendliche gefordert werden müssen und können. Und es ist oft die Diskussion, ob reine Unterhaltung ausreichend ist oder immer irgendetwas provoziert oder irgendein Thema behandelt werden muss, um Kinder in Prozesse zu versetzen. Da gibt es keine eindeutige Antwort.

Karin: Was ist denn deine Meinung?

Verena: Meine Meinung ist, dass Theater für Kinder und Jugend auch durchaus „nur“ unterhaltend sein kann, wenn es auf einem ästhetischen Niveau ist. Es ist nicht immer notwendig, eine Frage zu erörtern oder eine Botschaft zu vermitteln. Moralisch darf es aber nicht sein, da gibt es einen großen Aufschrei. Sobald Kinder- und Jugendtheater moralisierend ist, schreien alle laut pfui.

Karin: Warum? Woraus hat sich das entwickelt?

Verena: Es kommt ein bisschen daher, dass Theater früher moralisch und pädagogisch war. Wilhelm Busch, die schwarze Pädagogik. Der Versuch, mit Theater Verhaltensweisen zu vermitteln. Braves, biederes Theater, wo am Ende eine Botschaft steht. Da gehen alle dann zufrieden nach Hause, da haben unsere Kinder etwas gelernt. Das ist der Killer für jede Ästhetik, für jede Kunst. Moral und Kunst gehen überhaupt nicht zusammen. Diese Haltung hat mittlerweile auch ins Kinder- und Jugendtheater Eingang gefunden. Moralisches Kindertheater, wo die Kinder eine Antwort serviert bekommen, anstatt sie mit einer Frage zu konfrontieren. Das darf letztendlich nicht das Ziel von Theater sein.

Karin: Ist das denn so strikt getrennt, dass Moral immer die Antwort ist und Fragen, die aufgeworfen werden, nicht moralisch sind?

Verena: Es ist eher die Frage nach dem Zeigefinger. „Du-du-du, das darfst du nicht.“ Das wollen wir nicht. Das andere ist, den Kindern die Möglichkeit zu geben, selber eine Entscheidung zu treffen. Beispielsweise bringst du ein Theaterstück über Mobbing auf die Bühne und der Mobber ist der Bösewicht und alle sagen, der ist pfui und gaga. Das wäre die eine Sache; die andere Sache wäre zu sagen: wodurch entsteht das, warum mobbt er, was passiert mit dem, wie geht es dem Kind, das gemobbt wird, wie geht es dem Mobber? Dass es nicht Schwarz und Weiß ist. Dass es auch Grauschattierungen gibt. Wie es im Leben ist. Es gibt keine eindeutige Moral, letztendlich. Theater soll im Idealfall Freigeister und Menschen erziehen, die in einer Auseinandersetzung zu einer Entscheidung kommen.

Karin: Wie würdest du deine Aufgabe als Theaterpädagogin definieren?

Verena: Sehr unterschiedlich, es hängt vom Projekt ab. Aber nicht als lehrend, ich bin keine Theaterlehrerin. Es geht nicht darum, dir etwas beizubringen. Ich suche gerade nach einem gemeinsamen Nenner in meiner Arbeit. Ich glaube, der gemeinsame Nenner ist, mit allen Menschen, mit denen ich arbeite, individuell danach zu suchen, wo das Feuer in dieser Person ist, wo die Leidenschaft ist. Wodurch bringt man die Menschen dazu, das auszudrücken, was in ihnen noch unerkannt schlummert? Das interessiert mich am meisten. Egal, ob das Lehrerinnen sind, mit denen ich zum Thema Gewalt an Schulen arbeite und sie dann eine Gewaltszene selber spielen können, um sich vom Moralkodex einmal zu befreien; oder ob ich mit Flüchtlingen arbeite und ihnen ein Sprachrohr gebe, eine Ausdrucksweise für dramatische Erfahrungen; oder mit alten Menschen, mit Jugendlichen arbeite; schauen, wo bei ihnen die Lust ist, was können sie auf der Bühne tun, was ihnen im echten Leben nicht möglich ist. Das kann sehr befreiend sein. Deshalb habe ich seinerzeits am Grazer Schauspielhaus gekündigt, weil ich dort hauptsächlich Vermittlerin war. Den Kunstbetrieb zu erklären, ist mir zu wenig. Ich möchte die Menschen in einen Prozess versetzen: wo können sie hinkommen.

Karin: Wie würdest du die Wechselbeziehung zwischen dir und den Menschen, mit denen du arbeitest beschreiben? Wie gehst du in diese Beziehungen hinein?

Verena: Auch sehr unterschiedlich, abhängig etwa von der Gruppengröße. Der Unterschied liegt insgesamt in der Verantwortung. Mit Profis ist es eine geteilte Verantwortung. Wenn ich mit einer Gruppe Jugendlicher arbeite, dann übernehme ich diese Verantwortung voll. Ich hasse es, wenn ich von Kolleginnen höre: „ich habe so eine schlechte Gruppe, die sind so untalentiert“. Da denke ich mir: na und? Dann finde einen Weg, wie sie auf der Bühne gut dastehen. Es gibt keine Untalente. Keith Johnston hat das sehr schön gesagt: Es gibt nur mehr oder weniger ängstliche Spieler. Es gibt nicht die talentierten und die untalentierten, es gibt nur die, die mehr Angst haben. Da gehe ich d’accord. Sicher gibt es welche, die strahlen. Aber die, die strahlen, sind immer die, die keine Angst haben. Die, die nicht sofort strahlen, das sind meistens jene, die Blockaden haben. Wenn man schafft, die zu brechen oder loszuwerden, bringt man sie auch zum Strahlen, vielleicht nicht so grell. Wenn ich mit einer Gruppe arbeite, dann ist es meine Verantwortung, dieses Strahlen auf die Bühne zu bringen. Wenn das nicht gelingt, dann liegt das an mir. In der Arbeit mit Künstlerinnen, mit Profis, kann man in eine Diskussion, in einen Streit gehen. In diesen Prozess sind wir alle zusammen involviert. In der Arbeit mit einer Gruppe muss ich mir etwas überlegen, wenn etwas nicht funktioniert.

Karin: Das sind sehr emotionalen Begegnungen, die du da beschreibst.

Verena: Sind sie jedenfalls. Das fordert mich sehr. Ich bekomme von den Menschen viel mit, sie erzählen viel. Gerade bei der letzten Produktion in Wien mit dem Flüchtling mit Downsyndrom.

Karin: Kannst du über das Projekt etwas erzählen?

Verena: Das ist ein Geschwisterpaar aus Indien. Sie sind in einer Dancecompany, mit der ich bereits zusammengearbeitet habe, wir haben sie in einem Workshop mit Flüchtlingen kennen gelernt.
Der Bruder hat Trisomie 21. Die „Ich bin OK“ Dancecompany arbeitet mit Menschen mit Behinderung, die hat ihn eingeladen und dann ist die Idee entstanden, ein Stück über diese Geschwister zu machen, über ihre Geschichte. Im Rahmen der Entwicklung haben wir immer mehr von ihnen erfahren, je mehr Vertrauen da war, je tiefer wir eingetaucht sind, desto schlimmer ist es geworden. Pal, dem Burschen mit Downsyndrom, wurde die Zunge durchschnitten in Indien und er konnte nicht mehr sprechen. Er und die ganze Familie wurden deswegen diskriminiert. Der Arzt schlug vor, das Kind „zu erlösen“. Mit diesem Menschen, dieser Geschichte haben wir gearbeitet. Da hatte ich dann das erste Mal wirklich Alpträume. Ich habe von Misshandlungen geträumt, von einer angeschwollenen Zunge, dass mir jemand das Gehirn amputiert hat. Da habe ich gemerkt, dass mich das sehr belastet, wir hatten immer wieder Krisen bei der Arbeit. Es ist interessant, da wir sehr unterschiedliche Kritiken zu diesem Stück erhalten haben. Sehr positive Kritiken – „wie berührend“ – und eine Kritik etwa von einer professionellen Tänzerin, die meinte, das wäre Betroffenheitstheater und unsere Distanz würde fehlen. Und ich verstehe diese Kritik. Ich kann dem etwas abegewinnen.

Karin: Da war es also nicht möglich, die Distanz hineinzubringen?

Verena: Genau. Das meinte ich vorher. Die Ästhetik wurde vernachlässigt. Wir hatten diese Geschichte, waren darin gefangen. Für manche war es genug ästhetisch und berührend. Vom professionellen Anspruch her aber war die Kritik vielleicht gerechtfertigt.

Karin: Welche Reflexion wünscht du dir auf deine Arbeit?  Und passiert das überhaupt?

Verena: Eine gefährliche Sache, das ist ein doppelschneidiges Schwert. Natürlich wünscht man sich eine Reaktion. Man tut sich aber auch keinen Gefallen, wenn man zu sehr darüber nachdenkt, wie es auf das Publikum wirkt. Da wird man weniger risikobereit. Das andere Extrem wäre, wenn man immer provozieren müsste. Ich versuche es so zu halten, dass ich mit der Arbeit, die ich mache, mit mir selber ehrlich bin. Gelingt es mir, in einen tiefen Prozess zu gehen und da etwas herauszuholen? Gelingt es mir, ein Thema auf die Bühne zu bringen oder bin ich noch schwammig? Ich habe das Gefühl, je klarer ich bin, desto besser das Ergebnis. Manchmal wird das Ergebnis aber auch besser, wenn man von der Produktion weniger will.

Karin: Wann ist es für dich ein Erfolg?

Verena: Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre total frei von Bewertung, leider. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupte, mir würde ein guter Prozess genügen und das Produktionsteam zufrieden ist. Natürlich möchte ich, dass es gut ankommt. Dass es erfolgreich ist. Aber ich habe schon viel gelernt. Feedback und Kritik der Kolleginnen sind mir schon weniger wichtig, als es einmal war. Das ist für mich ein großer Schritt. Das Publikum sind nicht die Kolleginnen, ich produziere nicht für Kolleginnen. Es ist ja nichts Nachteiliges, sich zu messen, da wächst man. Aber freier in der Arbeit ist man, wenn man darauf nicht achtet. Mir geht es so viel besser.

Karin: Denkst du, der gesellschaftliche Diskurs über Kunst ist ausreichend vorhanden? Zu Beginn meintest du, das würde abnehmen. Wie ist ein gesellschaftlicher Diskurs darüber in Gang zu bringen?

Verena: In der momentanen politischen Situation ist es ja ganz schlimm. Da hat man das Gefühl, das wird immer noch weniger und noch weniger. Die Regierung spricht das ganz offen aus, was sie verfolgen. Nämlich genau das, das sagen sie ganz offensiv: freies Theater und kritisches Theater ist uninteressant; wir müssen die Tradition hochhalten und die Volkskultur wieder stärken. Das ist für mich eine wirkliche Gefährung der Gesellschaft. Wenn nur das zelebriert wird, was seit Jahrzehnten und Jahrhunderten da ist,und sich nichts weiterentwickelt, und keine Grenzen überschritten werden, ist das der Stillstand einer Gesellschaft. Und da passiert derzeit viel zu wenig, es gibt viel zu wenig Reflexion. Gerade, dadurch, dass ich in den letzten Jahren viel am Land tätig war: viel zu wenig. Da rede ich noch gar nicht von freier Szene, vom freien Theater. Sondern von Basics. Es gibt kaum Möglichkeiten, in der Freizeit Theater zu spielen. Ein paar engagierte Lehrerinnen machen das, die aber das Handwerk manchmal nicht beherrschen. Wogegen wir professionellen Theaterpädagoginnen kämpfen, dass es weg geht von dem Moralischen. Natürlich passiert das in der Schule aber immer wieder, dass das Theater genau dafür instrumentalisiert wird, moralisch zu wirken. Das sollte es nicht. Das sollte vor allem nicht der erste Kontakt für die Kinder mit dem Theater sein. Schon gar nicht, wenn sie selber auf der Bühne stehen. Da sollte die Erfahrung sein, dass Theater befreit, Theater ermöglicht, Theater öffnet. Das tut mir schon oft weh, wenn ich sehe, was da gemacht wird. Die Rezeption, – da gibt es sowieso nur das Theater in Salzburg, das Theater in Graz und die Laientheater. In der Wahrnehmung, im Bewusstsein haben die Leute oft nicht, dass es außer Musicals, Stadttheater und Laientheater noch etwas anderes gibt; habe von Lehrerinnen und Jgendlichen schon gehört: da stehen nur drei Leute auf der Bühne? Dann ist das doch kein Theater.

Karin: Woher kommt deiner Meinung nach diese Wahrnehmung?

Verena: Eben schon, dass engagierte Lehrerinnen einmal im Jahr ins Schauspielhaus oder ins Next Liberty fahren. Ich verstehe das auch. Das ist den Eltern gegenüber vertretbar, du gehst sozusagen in ein „professionelles“ Theater. Die Wenigsten wissen, dass es noch weitere professionelle Theater gibt, die genauso  hochkarätig sind wie das TaO! beispielsweise, das schon vielfach den „STELLA“, den nationalen Kunstpreis für Kinder- und Jugendtheater in Österreich gewonnen hat. Es liegt an der Öffentlichwirksamkeit; das Stadttheater ist größer,  es gibt mehr Lobby, mehr Geld. Aber auch daran, dass es für die Pädagoginnen auch einfacher ist, in Stücke zu gehen, wo sie danach keinen Arbeits- oder Erklärungsbedarf haben. Wenn du dir ein schönes Musical anschaust, gehen danach alle raus, sind happy und die Sache ist erledigt. Wenn du dir ein Stück über den Tod einer Schwester oder einer Vergewaltigung anschaust, dann musst du danach auch noch aufarbeiten.

Karin: Du hast vorher gesagt, Grenzen müssen überschritten werden. Und das wären also Themen, die auch für Zuschauer_innen Möglichkeiten eröffnen,?

Verena: Genau. Für Zuschauerinnen können vielleicht Kammern aufgestoßen werden, die zuvor verschlossen waren. Themen werden berührt, mit denen man sich vorher noch nie beschäftigt hat.

Karin: Wie würdest du Typisierungen, Kategorisierungen beurteilen? Siehst du das kritisch oder arbeitest du damit?

Verena: Nein, überhaupt nicht. Weil ich immer denke – und das habe ich durchs Theater gelernt: die Biografie eines Menschen ist nicht, was er denkt, sondern was er tut. Und das gilt auch für die Figuren im Theater. Es gibt nicht den Bösen und die Gute, sondern es ist immer relevant, was der Mensch tut. Das hat nichts mit dem Hintergrund der Person zu tun. Ich kann weiß Gott was für einen Hintergrund haben, aber ich kann mich für etwas anderes entscheiden. Ich kann mit einem Gedankengut groß werden und dann aber trotzdem sagen, dass ich das nicht mache. Ich kann viele schlechte Sachen denken und dennoch etwas anderes tun. So eine Figur ist im Theater interessanter als ein braver Mensch, der genau so lebt und tut und handelt, wie er denkt und nirgendwo aneckt. Das ist für uns im Theater nicht so interessant, wie ein Mensch mit Konflikten. Ich finde, das Schlimmste, was du machen kannst – im Theater – ist es, Menschen zu verurteilen, indem dass sie einseitig werden. Damit macht man nichts auf, öffnet keine Phantasien. Denken kannst du alles. Ich wage zu behaupten, dass es auf der Welt keinen Menschen gibt, der nicht irgendwann irgendwie rassistisch denkt. Die Frage ist, was tut man damit. Der Auftrag auch fürs Theater wäre, sich die Fähigkeit zu behalten, jedem Menschen neu zu begegnen und individuell zu sehen. Frei von dem Kontext. Egal, welche negativen Erfahrungen ich mit Ausländerinnen gemacht habe, dem nächsten wieder offen zu begegnen. Und ich glaube, das ist die Herausforderung.

Karin: Interessant, wenn du sagst, das ist mit Theater möglich und gleichzeitig wird Theater immer mehr verunmöglicht. Welche Möglichkeiten werden dadurch nicht genutzt?

Verena: Als Theaterpädagogin würde ich sagen, bei den momentanen Entwicklungen in den Schulen wäre nichts notwendiger und dringlicher als alle Schulen zu Theater auf hohem Nievau zu verpflichten. Es ist meiner Meinung nach wirklich das wirkungsvollste Instrument. Sich spielerisch zu begegnen. Möglichst früh, bevor etwas passiert. Das hat viel mit Vertrauen zu tun.  Das ist immer eine Wechselwirkung.

Infos: http://die-heidi.at/