„L’affaire Charlie Hebdo“ – Der Streit um die Vergabe eines Meinungsfreiheitspreises

Bei einem extremistischen Attentat auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo sterben im Jänner 2015 12 Menschen. Nur wenige Monate danach nominiert das US-amerikanische Center der internationalen Schriftsteller_innenvereinigung PEN Charlie Hebdo für einen Meinungsfreiheitspreis. Innerhalb der Vereinigung entflammt ein öffentlich ausgetragener Streit über die Tauglichkeit des Preisträgers hinsichtlich der Vereinbarkeit mit PENs Leitprinzipien und über die Grenzen der Meinungsfreiheit.

In meiner Arbeit zeige ich anhand einer Textanalyse, dass der überraschend vielschichtige Disput gesellschaftliche, politische und moralische Fragen einschließt und sich in einer komplexen Atmosphäre medialer Stimmungsmache und individueller Befindlichkeiten bewegt. Georg Simmels Streit-Theorie bereitet eine fruchtbare theoretische Basis, die empirische Analyse erfolgt mittels der bislang weitgehend unbeachteten Critical Method nach Kenneth Burke. Insgesamt 11 ausgesuchte Streit-Texte erfahren anhand eines zweistufigen Verfahrens eine eingehende Betrachtung, Interpretation und Gegenüberstellung. Zuvor werden PENs historische Hintergründe und Strukturen beleuchtet sowie der Anschlag auf Charlie Hebdo und seine Folgen für „L’affaire Charlie Hebdo“ besprochen.

Die spezifischen formalen bzw. oppositionellen Positionen, aus deren Standpunkt heraus die involvierten Streitparteien argumentieren, werden aufgezeigt, und es verdeutlicht sich das Spannungsfeld zwischen Individuum und Sozialwesen. Die Ergebnisse zeigen, wie die in Ideenbilder übersetzten Erfahrungsmuster der Streitparteien in den Streitfall hineingetragen werden; innerhalb des Streitrahmens lassen sie sich für die Gegenparteien jedoch nur bedingt entschlüsseln oder finden keine Beachtung und führen daher zu wechselseitigen Verkennungen. Anhand Simmels Erläuterungen gelingt es aber zugleich, die konstruktiven Aspekte des Streits zu erörtern.

Neben der Aktualität des Themas – die Diskussion über Terror und Meinungsfreiheit – sind es gerade die Aspekte des Streits, die wir nach über 100 Jahren immer noch aus Georg Simmels oftmals zeitlosen Essays extrahieren können, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Es handelt sich, wie Simmel immer wieder betont, um die Dynamiken, die zwischenmenschlichen Feinheiten, um das, was uns erst verbindet und dann auch wieder zu trennen vermag, immer jedoch für die Lebendigkeit der Gesellschaft sorgt. Ziel meiner Arbeit war es also auch zu zeigen, wie umfangreich Simmels Erläuterungen sind, und nicht zuletzt, wie sein (oftmals kritisiertes) relativistisches Verständnis für aktuelle Analysen einsetzbar ist.

Die Entscheidung, für den empirischen Teil auf den Literaturkritiker Kenneth Burke zurückzugreifen, enthielt einen experimentellen Charakter, der sich schließlich vollends bezahlt macht. Es fügt sich in der Arbeit Theorie und Methode, wie ich meine, bestmöglich zusammen. Anhand dieser Vorgehensweise lassen sich Intentionen und Ideale, Divergenzen und Gemeinsamkeiten offenbaren, die in schriftlicher Form vorhanden ohnehin, wie Simmel sagen würde, immer nur eine Möglichkeit des Menschen repräsentieren.

Es zeigt sich damit schließlich, wie schwerwiegend die Streitkultur durch die Öffnung des Streitraums mittels der Nutzung diverser sozialer Medien beeinflusst wird. Ein geordneter Streit ist auf diesem Weg kaum mehr möglich. Selbst für solche Menschen nicht, deren täglich Brot der souveräne Umgang mit Sprache ist – für Literatinnen und Literaten.

Karin Scaria-Braunstein

Die Arbeit wurde mit dem „Preis für herausragende soziologische Masterarbeiten 2017/2018“ von der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie ausgezeichnet.

Freier Zugang unter: http://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/1520681