Über die Grenzen, in die Einheit
Wenn wir ein (malerisches) Kunstwerk – in seiner „Distanz und Einheit“ schauen, so Georg Simmel, ergreift uns das Gefühl des „unverdienten Geschenks“. Die Distanz aber erbaut sich erst durch den Bilderrahmen, „dem Regulativ“, dessen Aufgabe zugleich eine „trennende wie verbindende“ ist. Es ist dies jenes „Vor- und Zurücktreten“[1], das Hin- und Abwenden, die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Begrenztheit, die Simmel in vielen Gedanken und seinen facettenreichen Lebensbeschauungen umtreibt, die Einheit, die sich doch irgendwie aus der Vielgestalt des Lebens zu vollziehen vermag.
Ohne Rahmen müsssen sie zu fallen scheinen. Die in den Raum ohne Grenzen gestellten, gelegten und platzierten Figuren des großen Egon Schiele. Dennoch muten sie auf den ersten Blick scharf umrissen an, zuweilen im furiosen Selbstportrait an den Grenzen des Leibes, im direkten Anschluss an die Konturen, im leuchtendem Weiß vom getönten Blatt abgehoben.
Die erlebenswerte Egon Schiele Jubiläumsschau des Leopold Museum in Wien (23.02.2018 – 04.11.2018) gönnt dem aufmerksamen Geist unter der Rubrik „Spiritualität“ eine Verbindung zwischen dem Simmelschen Hinausgreifen über das Leben, dem „Mehr Leben“ sowie dem transzendierenden „Mehr als Leben“[2] und Schieles zuweilen verzweifeltes Streben zu knüpfen. Das beständige Verlangen nach dem Überschreiten der Grenzen des Individuums im kontinuierlichen Fluss des schöpferischen (Da-)Seins spiegelt sich in Schieles „ständige[r] Suche nach Erneuerung und Transformation“, „des unaufhörlichen Wechsels von Werden und Vergehen“[3]. – und nicht zuletzt in der unbegrenzten Begrenztheit einiger seiner meisterhaften Werke.
Wie sich für Simmel schließlich am Höhe- und Endpunkt seines Schaffens – lange ersehnt! – der Gegensatz zwischen Grenzen und Kontinuität aufzulösen scheint, war für Schiele, erinnert sich Arthur Roessler kurz nach des Künstlers tragischen Tod, „die Malerei, wenn man so sagen darf, nur ein Mittel zum Zweck, ein allerdings überaus feines, ganz außerordentlich hochentwickeltes Ausdrucksmittel; und sein Zweck war die Vollendung eines geistsinnlichen Anschauens, seiner Seherschaft, über deren Zauber man die geistigen, mehr aber noch die sinnlichen Reize der Linien und Farben vergessen kann und soll.“[4]
Karin Scaria-Braunstein
[1] Simmel, Georg (2016 [1902] ): Der Bilderrahmen, ein ästhetischer Versuch. Gesamtausgabe Band 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S102.
[2] Simmel, Georg (1994 [1922]): Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. Berlin: Duncker & Humblot.
[3] Leopoldmuseum, Ausstellungen (o.J.): https://www.leopoldmuseum.org/de/ausstellungen/95/egon-schiele
[4] Roessler, Arthur (Hrsg.) (1921): Briefe und Prosa von Egon Schiele. Wien: Buchhandlung Richard Lányi.