Die Stadt der Rabtaldirndln :: Wer ist WIR und was ist LEBEN? Ein soziologischer Exkurs. Blog3,5

Städte üben seit jeher eine große Anziehungskraft aus und verkörpern Ambivalenzen. In ihnen wird gewohnt, gearbeitet, konsumiert (immer mehr), flaniert[1] (immer weniger), geliebt, gehasst, oft gerade einmal so überlebt. Über sie wird geschrieben, gesungen, philosophiert. Städte sind vor allem eines nicht: in irgendeiner Weise homogen. Daher ist schon die Fragestellung „Wie wollen wir leben?“ nicht zu operationalisieren. Wer ist „Wir“ und was bedeutet „Leben“ in einer Stadt?

Vielleicht kann über diese Schwierigkeiten und Barrieren die Kunst tatsächlich am besten hinweghelfen. Ihr ist es möglich, über Phänomene, eine Frage zu reflektieren und nachzudenken, vor allem aber vorauszudenken, wie das wissenschaftlich selten möglich ist. Das gilt gerade für die Kompliziertheit von Zusammenleben in Städten.

Soziologisch stehen Städte seit Beginn der Disziplin im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zur Zeit der Industrialisierung kamen die großen Themen auf: Wachstum, Mobilität, Transformation. Und besonders pressierte die Frage, wie Menschen in Städten zusammensind. Georg Simmel attestiert 1903 in „Die Großstädte und das Geistesleben“[2] den Menschen in der rasant wachsenden Stadt Berlin eine unvermeidbare Blasiertheit – eine latente Aversion[3]. In der Großstadt, so Simmel, können wir uns nicht ständig über die Absichten unserer Mitmenschen versichern. Unsere Nerven sind ob der unzähligen Reize allzeit angespannt. Daraus resultiert gegenseitige Reserviertheit. Städtisches Zusammenleben ist demnach ein sozialpsychologischer Drahtseilakt. Einmal beschwert sich der an den Stadtrand gezogene Simmel in einem Brief darüber, dass sich die Kutscher ständig verfuhren. Auch wenn Simmel die Sommer gerne in den Bergen verbrachte, wo er Platz fand, seine Gedanken schweifen zu lassen, faszinierten ihn Städte Zeit seines Schaffens. Sie lösten wohl in ihm das aus, was er Leben nannte: Sie stießen ihn ab und zogen ihn an.

Zwischen 1895 und 1940 erblühte in den USA die Chicago School, für die Zwischenkriegszeit war sie von besonderer Bedeutung. Forscher*innen widmeten sich empirisch den liberalen, kriminellen und kapitalistischen Entwicklungen der Stadt, politischen und wirtschaftlichen Themenfeldern, Migration und Mobilität[4]. Die Chicago School hat, wie Simmel und andere Klassiker, die heutige Stadtsoziologie maßgeblich geprägt[5].

2020 also sollen Die Rabtaldirndeln darüber nachdenken, wie wir leben wollen. Städtesoziologisch gibt es dafür verschiedene Zugänge. Wir können uns einer Stadt räumlich oder politisch nähern, auf der Handlungs- wie auf der Funktionsebene. Uns anschauen, wie sich Städte ausdehnen. Zentren und Peripherien lokalisieren. Analysieren, wie und welche politischen Interessen durchgesetzt werden. Devianz, Intersektionalität und Subkulturen untersuchen; wie wir uns in Straßenbahnen verhalten[6]. Gar systemtheoretisch ließe sich auf eine Stadt schauen. Es gibt scheinbar unzählige Möglichkeiten.

Die Rabtaldirndln ermitteln – unter der Regie von Yosi Wanunu – das Problem anhand einer aktuellen Erscheinung: Einer zunehmenden Eventisierung[7] der Stadt. Über die Vermittlung eines Actionfilms wird Zukunft performt. Formal könnten wir von einer (teil)analogen Simulation sprechen. Mit der städtischen Eventisierung nehmen die Rabtaldirndln etwas auf, das sie in der Probenzeit beinahe einzuholen droht: Plabutschgondel, Freizeitparks, Schwimmende BBQ Inseln, Partyzonen. Das feministische Theaterkollektiv beweist aber nicht nur damit Zeitgeist. Sie spüren anhand von Objekten und Artefakten[8] auf, welche Symbole Graz versinnbildlichen. Die Zukunft kann nur über die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart visioniert werden. Obwohl das unser Visionsvermögen gleichsam verengt.

Das Projekt Die Stadt der Rabtaldirndln ist eine große Herausforderung. Über die Ebene des (gespielten) Films soll die Stadt in ihrem Jetztsein abgeholt werden – und in ein Dannsein transformiert werden. In eine Idee davon, wie wir nicht leben wollen. Für die sozialkritische Perspektive auf Graz (bzw. Wien) muss also über die Eventisierung hinausgedacht und multiperspektivisch auf das Zusammenleben geschaut werden. Das erfordert eine kluge Vorgehensweise – oft eine genaue Sprache. Und verlangt unausweichlich den Mut zu Lücken. Dennoch scheint es zu gelingen, eine Vielzahl heutiger und künftiger Problemstellungen aufzunehmen. Wohnen, Mobilität, Ungleichheit und Wachstumsgrenzen gehören jedenfalls dazu. Die Themen entwickeln sich in der interdisziplinären und -kulturellen Zusammenarbeit kontinuierlich aus. Alles im Rabtaldirndel-Design präsentiert. Feministisch, brachial und mit ordentlich bösem Humor.

Das wird ein Event.

Karin Scaria-Braunstein

[1] Hier sei auf Walter Benjamin verwiesen – und auf die langsame Wiederentdeckung des Flanierens.

[2] Simmel, Georg (1995 ): „Die Großstädte und das Geistesleben“. In: Rammstedt, Otthein (Hrsg.) Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band I. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Gesamtausgabe Band VII), S. 116-132.

[3] Simmel, Georg (2013 ): „Der Streit“. In: Rammstedt, Otthein (Hrsg.) Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Gesamtausgabe Band II), S. 63-159.

[4] Vgl. Schubert, Hans-Joachim (2007): The Chicago School of Sociology. In: Klingemann C. (eds) Jahrbuch für Soziologie-geschichte. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90494-8_6

[5] Für einen Überblick über die Stadtsoziologie siehe: Hannemann, Christine (2013): Stadtsoziologie. In: Mieg H.A., Heyl C. (Hrsg.) Stadt. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05189-9_4.

[6] Dazu beispielsweise: Hüttermann, Jörg/Minas, Timo (2016 online): Mit der Straßenbahn durch Duisburg: Der Beitrag indifferenzbasierter Interaktion zur Figuration urbaner Gruppen / Taking a Tram in Duisburg: The Contribution of Interactions Grounded in Indifference to the Figuration of Urban Groups. In: Zeitschrift für Soziologie. Band 44, Heft 1.

[7] Siehe etwa: Hitzler, Ronald (2011): Eventisierung. Drei Fallstudien zum marketingstrategischem Massenspaß. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

[8] Siehe dazu auch: Joerges, Bernward (1999). Brücken, Busse, Autos und andere Verkehrsteilnehmer: zur Repräsentation und Wirkung städtischer Artefakte. In G. Schmidt (Hrsg.), Technik und Gesellschaft, Jahrbuch 10: Automobil und Automobilismus(S. 197-218). Frankfurt am Main: Campus Verl. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-54822-7