In Rückkehr nach Reims problematisiert Didier Eribon sein Herkunftsmilieu und die aus diesen sozialen Determinismen hervorgehenden persönlichen Stigmatisierungen, die spezielle Scham- und Exklusionserfahrungen konfigurieren; die Gesellschaft urteilt unnachgiebig über Subjektpositionen, verteilt diese zugleich über strategische Machtmechanismen – für Eribon bedeutet dies zunächst: Beleidigungen sind spezifische Effekte des Klassenwechsels. Das »eribonsche Ich« verortet sich dabei zwischen Herkunftsmilieu und akademischer Welt und arrangiert eine Zwischengattung, mit der diese Konstellation überhaupt erst möglich wird. Allerdings berücksichtigt der transclasse-Interpretationsansatz nicht sämtliche relevante Faktoren, auf Basis derer sich die Gesellschaftsordnung reproduziert und somit – um es mit Foucault zu sagen – Sagbares vom Unsagbaren getrennt wird.
Dieser (bereits in Rückkehr nach Reims) angedeutete ‚Rest‘ wird mit der deutschen Neuübersetzung von Betrachtungen zur Schwulenfrage (2019) [franz. 1999] insofern komplementiert, als dass sich daraus wechselseitige Verknüpfungen beider Bücher ergeben; sexuelle und soziale Scham lassen sich demnach nicht voneinander trennen, sie überkreuzen, verdichten sich, und wirken hinein in aktuelle Diskurse um Intersektionalität.
Auch wenn die bisherige Rezeptionsgeschichte dieses Buch zumeist im Gleichklang mit Judith Butlers Gender trouble (1990) zu einem sogenannten »Gründungsdokument/Ereignis« (Suhrkamp) der queer theory bzw. Gender Studies stilisiert, erschließt sich dessen überragende Bedeutung aber eben auch entscheidend über die Form seiner „‘soziologisierende[n] Darstellung“ (Eribon 2017: 19). Die ‚Soziologisierung des Ichs‘ rekurriert nicht nur auf den abgestreiften Habitus des Herkunftsmilieus, sondern diese essayistische Akzentuierung ist in sich bereits mehr als nur Ausdruck klassenspezifischer Schemata des Denkens, Wahrnehmens und Handelns. Im programmatischen Anspruch, „Widerstand gegen die Unterwerfung und der Neuformulierung seiner selbst“ (Eribon 2019: 20) zu leisten, verdichten sich die von Eribon anvisierten Subjektivierungspraktiken in Form von Widerstandsgesten. Die Querverbindung zu Butlers Resignifikationskonzept ist daher nur plausibel, bietet dieses Eribon doch die Folie für den Konnex zwischen autobiografischem Schreiben und soziologischer Gegenwartsanalyse, der das Material zusammenführt und als Basis individueller Emanzipationsbewegung profiliert. Ausweg aus den ineinandergreifenden Strukturzwängen bietet demnach eine Praxis, die darin besteht, „Identität […] zu schaffen und immer neu zu schaffen.“ (Eribon 2019: 176)
Der erste, der insgesamt drei großen Abschnitte des Buchs, trägt den Titel „Eine Welt voller Beleidigungen“ und arbeitet entlang historisch-systematischer Begriffsanalysen (Goffmans Stigma, Prousts und Symonds sexueller Inversion, Hirschfelds drittes Geschlecht etc.) und subjektivierungstheoretischen Kontextualisierungen (Sartre, Althusser, Sedgewick) relevante Konstitutionsbedingungen homosexueller Alteritätserfahrungen heraus. „Oscar Wildes Gespenster“, das zweite Kapitel, schlüsselt eindrucksvoll die Relevanz von Literatur und Philosophie für die Genealogie der Schwulenfrage auf, die von der griechischen Vorstellung der ‚Päderastie‘ über Neulektüren von Proust, Wilde und Gide bis hin zu einer Kritik an Foucaults Sexualitätsdispositiv hergleitet wird. Überraschende Interpretationen literarischer und philosophischer Texte und besonders eine neue Lesart von Foucault erst im Spätwerk formulierten ‚Ästhetik der Existenz‘ verdichten sich dann im wohl gelungensten, letzten Teil des Buchs „Die Heterotopien von Michel Foucault“.
Das breite Spektrum des verwendeten Quellenmaterials sowie deren ambitionierte historisch-systematische Kontextualisierung ermöglichen ohne Zweifel vielschichtige Betrachtungsweisen zur Schwulenfrage[1], die ihre besondere Wirkung gerade dann einlösen, wenn sie (zukünftig) mit Eribons »Autosoziobiografie« unauflöslich verwoben gelesen werden. Diese Lesart ist wohl auch der Schlüssel dazu, über manch polemische Stellen ohne kritischen Quellenapparat hinwegzulesen und den Text als bedeutsames politisch engagiertes wie soziologisch-essayistisches Formexperiment zu deuten.
Raffael Hiden
Literatur
Eribon, Didier (2019): Betrachtungen zur Schwulenfrage. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Suhrkamp: Berlin.
Eribon, Didier (2017): Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp: Berlin.
Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn Suhrkamp: Berlin.
[1] Eribon bedenkt dabei selbst die Ausklammerung von »Lesben«, wenn er bemerkt, dass „die »Lesbenfrage« einen weiteren Band erforderte, der ebenso viele Forschungen benötigen würde wie der vorliegende.“ (Eribon 2019: 17)