Die Sozialfigur des Überflüssigen auf der Bühne

Analyse und Rezension zum Stück: „letztes Licht. Territorium“ von Thomas Freyer (Stückabdruck, TdZ März 2020)

Thomas Freyers Stück „letztes Licht. Territorium“ konfiguriert in fragmentarischer Sprache das soziale Phänomen des Überflüssigen mit formalen Anschlüssen an die klassische Dramatik. So agieren die auftretenden Figuren in einem permanenten Spannungsgefüge von äußeren Machteinflussnahmen, innerpsychischen Identitätskonflikten und der übergreifenden Dialektik von individueller und kollektiver Teilhabe. Die Entscheidung zur dichten und abgehackten Sprache verleiht dem Stück eine zugespitzte Atmosphäre, die auf eindringliche, wenn nicht gar unbedingte Weise mit der generellen Ausweglosigkeit der Figuren und deren Handlungsoptionen korrespondiert. Doch worin besteht diese konzentrierte Anordnung, worum handelt es sich eigentlich bei den Überflüssigen und wie figurieren sich diese im Theater aus?

Zuallererst haben wir es mit einem Territorium zu tun, das als eine Zwischenzone zu begreifen ist; irgendwo, fern ab des «Kontinents« – wie mehrmals im Stück wiederholt – wird dieses von einem Kollektiv belebt. Früher stand es besser um deren Lebensbedingungen, jetzt aber spitzen sich die Lebensbedingungen zu. Das Essen wird knapp, die moralischen Übereinkünfte bröckeln und als dann auch noch eine Fremde die räumliche Szenerie durcheinanderwirbelt, dann scheint das Territorium von ganz besonderen Herausforderungen bedroht. Suu, eine von außen, ein Eindringling, eine vom Kontinent, muss diese Sonderzone persönlich begutachten. Es geht um ein Bauprojekt: „Es geht um den möglichen Standort einer Firma“, rechtfertigt Suu ihre Vermessung und die angedachte Landnahme.

Doch viel mehr steckt in dieser Absicht; Suus Besuch nistet sich quasi in die Körper der im Territorium Lebenden ein und bringt dadurch wieder etwas zum Vorschein, was dort schon längst abgelagert und also aus dem Vergegenwärtigungsdrang ausgeschieden geglaubt wurde. Das Stück changiert zwischen körperlicher und emotionaler Erinnerung und hebt insgesamt den Aspekt der Körperlichkeit in unseren Leben hervor. In Anlehnung an Pierre Bourdieu wird hierbei dargelegt, dass unsere Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata, unser Erscheinungsbild, unsere Gesten, unser Geschmack, ganz wesentlich über unsere Körper verhandelt werden. Und diese Dispositionen sind wiederum räumlich, das heißt in weiterer Folge auch klassenspezifisch oder eben allgemein durch unsere Teilhaben in Gruppenzugehörigkeiten verortet. „Es ist der Rücken. Die Art, wie Sie ihn bewegen. Wie Sie ihn beugen. Daran erkennt man Sie“, sagt Magel an einer Stelle zur Fremden. Das sind Abgrenzungsprozesse und dazugehörige Legitimierungsversuche, um sich abzusondern und dem empfundenen Bedrohungsgefühl von Außen eine rationale Grundlage zu geben; Der Habitus weiß praktisch mehr, als wir selbst auszudrücken wissen.

Eindeutig und klar zeichnet das Stück ein Bild von sogenannten Überflüssigen (Heinz Bude), die eine stetig an Relevanz gewinnende Sozialfigur der Spätmoderne darstellt. Exklusions- und Grenzziehungsstrategien ermöglichen dies zuallererst, das heißt die über Typisierungen operierende Welt erzeugt erst Normales und dadurch zugleich das davon Abweichende. Im räumlichen Kontext – in unserem Territorium – knüpfen diese Gedanken auch an Michel Foucaults »Heterotopien« an.

Der szenische Bogen und die sprachliche Form des Stücks sind zweifelsohne gelungen, insbesondere weil Inhalt und Form miteinander harmonieren. Die Figurenzeichnung bündelt den narrativen Kern des Stücks, das ein stichhaltiges Panorama der von den westlichen Gesellschaften Ausgeschlossenen liefert und die damit in Verbindung stehenden Konfliktlinien aufzuzeigen imstande ist. Es ist zudem ein Vorzug des Plots, dass hier nicht repräsentativ auf bestimmte Orte oder Räume geschlossen wird, sondern das Problemfeld generell zum Thema gemacht wird; das fördert das imaginativ-fiktive Potential der projektiven Einschreibung und fordert insofern auch zu einer aktualisierten Variante von Katharsis heraus. Mit den Brillen der Aktualität wird man wohl an die miserablen Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern denken, doch Freyers Akzentuierung bietet beispielsweise auch die Möglichkeit, sich Lampedusa in Erinnerung zu rufen oder strukturelle Analogien zu sozialen Problemen in urbanen Räumen herzustellen. Das alles kann, muss aber nicht spezifisch verortet werden, sondern thematisiert exemplarisch den überflüssigen Menschen, der sich über eine zunehmende Skepsis gegenüber der Zukunft und seiner ausweglosen Situation im neoliberalen Hamsterrad definiert. Natürlich ist dieses Feld des Überflüssigen vielschichtiger und komplexer als diese Festsetzung auf zwei Dimensionen, die insofern nur eine Tendenz vorschlagen will.

Doch diese multiplen Perspektiven und Problemlagen werden im Stück anschaulich zum Thema gemacht, ja: man kann sich schon irgendwie vorstellen, was die Überflüssigen ausmacht oder generell: was die Überflüssigheit mit dem Leben macht, wie die sogenannten Überflüssigen leben und so weiter. Doch inwiefern es Übergänge aus dem Territorium geben kann, wie sich der Weg daraus beschreiten lässt, das bleibt offen. Am Ende wird noch angedeutet: „Wenn wir abbrechen. Das Territorium. Und wir raustreiben. Aufs Meer. Dann sind wir doch weg. Von allem“. Natürlich kann einen Ausgang, einen Hoffnungsschimmer nur erwarten, wer an die Verbindung von Leben und Theater glaubt. Doch behält man die Trennung bei, dann wird der Kunst ihr Möglichkeitsraum beraubt: zu bedenken bleibt, dass der Impuls ja aus dem Leben kommt, die Überflüssigen demnach nicht der Fantasie entspringen. Warum dann auch nicht umgekehrt, diese wieder aus ihrem Territorium befreien? Das Theater kann Varianten, Optionen und Alternativen konstituieren; das Theater ist ein mögliches Leben mit anderen Mitteln.

Raffael Hiden

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