Didier Fassin: „Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung“. Eine Besprechung

Didier Fassin, 2017, Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung, Berlin, Suhrkamp, 25,00 €, ISBN 978-3-518-58710-2-

Ungleiche Leben und Lebenwissen

Die Ehre ist es, die als Rechtfertigung herhalten muss für Didier Fassin, der 2016 am Institut für Sozialforschung der Frankfurter Goethe-Institut seine Adorno-Vorlesungen hielt. In Legitimationsnot gerät der in Princeton tätige Grenzgänger zwischen Philosophie, Anthropologie und Soziologie weniger durch die symbolische Nachwirkung der Frankfurter Schule auf seine Vorträge. Vielmehr konstituiert deren zugrundeliegendes Thema Probleme, das auf den ersten Blick eigentlich keines sein sollte; Fassin will nämlich „über ›das Leben‹ sprechen“ (9), das Leben als solches, es grundlegend fassen, den empirischen Umgang damit in Gegenwartsgesellschaften untersuchen. Als Bricolage konzipiert, soll die Rezeption des Textes eine Art Bastelkasten darbieten, mit dem man dem Leben gegenübertreten kann. In der titelgebenden Hommage an Georges Perec „Das Leben Gebrauchsanweisung“ verbirgt sich jedoch kein Ratgeber, verstecken sich keine handlungsanweisenden oder proaktiven Empfehlungen[1], sondern ein reichhaltig durchdachtes Entschlüsselungsprogramm zur Deutung vielfältiger Paradoxien des Lebens. Anhand von drei großen Abschnitten sind Fassins Vorlesungen konzipiert: in den „Formen des Lebens“ wird der Begriff der Lebensform unter Rückgriff auf Ludwig Wittgenstein diskutiert, die Vorstellung einer „Ethik des Lebens“ wird im Dialog mit Walter Benjamin und Hanna Arendt problematisiert und zuletzt wird eine „Politik des Lebens“ unter gouvernementalitätstheoretischen Gesichtspunkten konturiert. Komplettiert wird die theoretische Diskussion durch Fassins persönliche Erfahrungen im Rahmen seiner langjährigen ethnografischen Studien in Lateinamerika, Südafrika und Europa. Diese Kombination erweist sich als überaus innovativ, vermittelt diese doch direkt zwischen Theorie und Praxis, das heißt zwischen theoretischen Erörterungen über das Leben und deren tatsächlicher empirischer Einbettung. In diesem Wirkungsfeld liegen die wesentlichen Vorzüge dieser Texte begründet, die ihr Profil durch ein Kontinuum von begriffsanalytischer Tiefe und lebenspraktischer Verankerung zu schärfen wissen. Daraus formt sich „eine anthropologische Komposition von drei Elementen, aus deren Ineinanderfügen sich wie beim Zusammensetzen eines Puzzles ein Bild ergibt: die Ungleichheit der Menschenleben.“ (40)

Zurück zu Adorno

Adornos Minima Moralia ist Fassins argumentativer Ausgangs- und Anknüpfungspunkt seiner Überlegungen. Die darin zum Ausdruck gebrachte „Rückführung der Perspektive auf das einzelne Individuum“ (16) waren zweifelsohne bedeutsam, nur gilt Fassins Versuch der Fokussierung auf einen „relationalen Raum“ (16) als Vermittlungsinstanz zwischen Handlung und Struktur. Dabei soll keine Kritik der Lebensweisen im Sinne Adornos vorangetrieben, sondern vielmehr eine Genealogie der Sakralisierung des Lebens als höchsten Werts an sich ausformuliert werden: „Nicht: wie leben wir? […] Sondern eher: Welchen Wert messen wir dem menschlichen Leben als abstrakter Vorstellung bei? Und auch: Wie bewerten wir Menschenleben als konkrete Realitäten?“ (17) Eine moralische Ökonomie des Lebens bietet Fassin die Grundlage für die Entfaltung seines Arguments, dass Ungleichheit den wesentlichen Baustein in der Diskussion um das Verständlich-Machen von ›Leben‹ darstellt. Wie Werte entstehen, unter welchen Bedingungen sich diese verbreiten, inwiefern sich diese reproduzieren und verändern, diese Fragen stellt sich Fassins moralische Ökonomie. Dieses Analyseinstrument will demnach klären, „was in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll ist.“ (19)

Leben formen und Lebensformen

Im ersten Abschnitt diskutiert Fassin die Idee von Lebensformen in der mehrdeutigen Verwendung von Wittgenstein und konstruiert dabei durch einen Konnex mit Georges Canguillhem die wesentliche Differenz zwischen sozialer und biologischer Fundierung des Lebens. Ob Lebensformen anthropologisch invariant oder historisch kontextualisiert sind, hat den übergreifenden ideengeschichtlichen Diskurs über das Leben seit dem Zeitpunkt bestimmt, als dieses zum Problem an sich (Nietzsche) geworden ist. Die daraus resultierende Gegenüberstellung von Allgemeinen und Besonderen, dem Biologischen und dem Sozialen, Gesetz und Gesetzespraxis will Fassin überschreiten, indem er diese als dialektisches Spannungsverhältnis akzentuiert und um die Dimensionen der Moral und der Politik erweitert. Diese Aussparung, die insbesondere bei Wittgenstein offenkundig ist, weitet Fassin anschaulich und nachvollziehbar durch die Kontrastierung der aktuellen Flüchtlingsproblematik im nordfranzösischen Calais und südafrikanischen Johannesburg aus. Am Beispiel des „prekären transnationalen Nomadentums“ (61) wird dadurch deutlich, wie widersprüchlich das Verhältnis von gesellschaftlich Imaginiertem und gelebter Wirklichkeit gegenwärtig ist. Der zweite Abschnitt plädiert für eine begriffliche Verlagerung und Umkehr der Perspektiven in Bezug auf sittliches Leben hin zu einer Ethik des Lebens. Die Frage ist dann nicht, „was ein gutes Leben ausmacht, sondern […], wie das Leben selbst zu einem so hohen Gut wurde.“ (83) Ein komprimierter Abriss über ethische Positionen von Aristoteles‘ Tugendlehre über Kants Pflichtethik bis zu Foucaults Selbstpraktiken leitet über zu aktuellen Tendenzen einer „Verlagerung vom Leben als einem sozialen Phänomen zum natürlichen Leben“ (104). In der Diskussion um eine biologische Staatsbürgerschaft, die nach Foucault auf einer sich ausbreitenden Biolegitimiät basiert, kritisiert Fassin die auf Aristoteles zurück gehende und von Giorgio Agamben reformulierte Vorstellung des Menschen als zoon politikon mit der Vermutung, dabei geschehe zugleich eine Hierarchisierung unterschiedlicher Leben. Sein Vorschlag besteht nun darin „zwischen Praktiken und Erfahrungen zu unterscheiden, und das bloße Lebendigsein als Bedingung für Selbstverwirklichung im Rahmen einer Lebensform zu rehabiliteren.“ (130) Ein sogenanntes „nacktes Leben“ (Agamben) lässt sich eben nicht aus der Perspektive einer politischen, moralischen oder religiösen Überformung deuten. Menschen in Flüchtlingslagern lassen sich beispielsweise nicht auf die ›äußerliche‹ Deutung ihrer Nacktheit reduzieren, sondern finden durchaus zu Lebensformen, die sich erst aus und in der situativen Kopräsenz ergeben. Fassin versteht es gerade in diesen Stellen, seine umfangreichen anthropologischen Kenntnisse sowie seine ethnografischen Fallstudien zu einem markanten Panorama gegenwärtiger sozialer Probleme und aktuellen Paradoxien unserer Lebensformen zu verdichten.

Im abschließenden Teil bespricht Fassin Machttechniken der Biopolitik, die nach Foucault in erster Linie als politische Disziplinierungsmaßnahmen zur Beherrschung der Bevölkerung definiert sind. Fassins Einwand betrifft dabei die Tatsache, dass die Profilierung des Lebens als solches, das heißt ihren Inhalt weniger problematisiert als die spezifischen Machttechnologien zur Kontrolle und Steuerung von Menschen; Biopolitik müsse daher durch eine „Politik des Lebens“ ersetzt werden, die danach fragt, „was Politik mit dem Leben macht“ (136). Dem gesamten Projekt entsprechend und besonders prägnant wird hier noch einmal der Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Leben und dessen Formen; Fassin beansprucht dabei eine Perspektivenverschiebung, die „vom abstrakten Wert zur konkreten Bewertung im Sinne von Werthaftigkeit“ (144) übergeht. Auf den ersten Blick erscheint es kontraintuitiv, die Gleichwertigkeit und allgemeine Wertschätzung von Leben infrage zu stellen, doch der Blick auf die empirischen Realitäten unterläuft diese Annahme. Im Zuge des 19. Jahrhunderts entsteht geradezu eine „Ritualisierung von Lebensversicherungen“, die begleitet oder vielmehr bedingt war durch die grundsätzliche „Sakralisierung von Geld“ (151). Elementar gesprochen ist dieser Prozess dadurch charakterisiert, dass er „monetäre Entsprechungen“ (155) für empirische Verletzlichkeiten legitimiert. Im 20. Jahrhundert wird diese Tendenzen in Form umfassender Entschädigungspolitiken fortgeschrieben und auch im 21. Jahrhundert zweifelt niemand an der Rechtfertigungsgrundlage dieser ungleichen Bewertungssysteme des Lebens. Im Gegenteil, die eigentliche Konfliktlinie formiert sich ausschließlich entlang der Entschädigungssumme: „Die Höhe des Schadenersatzes ist mittlerweile strittiger als seine Legitimität.“ (176) Fassin erörtert seine Diagnose eindringlich und macht an den Fallbeispielen der ›Black Lives Matter‹-Bewegung und den Entschädigungsfonds für die Opfer des Terroranschalgs am 11. September 2001 nachvollziehbar deutlich, dass die ökonomische Bewertung von Leben unsere Gegenwart maßgeblich prägt und dass unser Dasein dadurch maßgeblich durch Ungleichheit bestimmt ist.

Ohne Zweifel sind die von Christine Pries übersetzten und dadurch erstmals auf Deutsch veröffentlichten Adorno-Vorlesungen von Didier Fassin ein außergewöhnliches Projekt. Dieses überzeugt in seiner Gesamtheit durch eine Klarheit im sprachlichen und argumentativen Ausdruck, die der Komplexität ihres Anspruchs ohne Abstriche gerecht wird. Das bewusste Aussparen normativer Handlungsorientierungen und Empfehlungen bricht zwar mit den Erwartungen an eine Gebrauchsanweisung, eröffnet dadurch aber zugleich die (kritische) Möglichkeit sowohl seine Perspektive auf die Welt als auch seine persönliche Weltbeziehung neu zu fassen. Durch die sorgfältige Skizzierung der Verbindung von zeitgenössischen Lebensformen und den tatsächlichen Formen des Lebens wird der Blick geschärft, mit dem auf das Leben geblickt wird.  Aber auch der Lebensblick, mit dem ›gelebt‹ wird, auch der wird belebt. Marica Bodrožic hat über „Das Auge hinter dem Auge“ geschrieben, möglicherweise hat Fassin in seinen Vorlesungen eine Art Leben hinter dem Leben entworfen, mit dem uns die Bedingungen für eine neue Hermeneutik der Existenz eröffnet werden.

Nach der Lektüre versteht man auch immer mehr, warum die konzeptuelle Ausrichtung mit einer Bricolage analogisiert wurde: man setzt zusammen, baut auseinander, fügt ineinander, setzt einzelne Teile neu mit anderen Teilen zusammen, wiederholt und differenziert. So wie im Leben eigentlich, vielleicht aber auch mehr als im Leben.

Raffael Hiden

[1] Wie beispielsweise: Altmann, Andreas (2017): Gebrauchsanweisung für das Leben. München: Piper Taschenbuch.