Martin Seel: „Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele“

Seel, Martin, 2018, Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele. Frankfurt am Main, S. Fischer: Wissenschaft, 160 Seiten, ISBN-13:978-3103972238

Martin Seels aktuelles Buch führt exemplarische Gedankenspiele vor, die in intellektueller Wahlverwandtschaft mit Ludwig Wittgenstein stehen. Ein ästhetisches Lese- und Denkwagnis.

Ein Seiendes liegt ebenso hinter der Realität wie auch hinter der Literatur, hat Sigmund Freud einmal festgehalten. Dieser Geheimbereich, der sich hinter den offenbarenden und augenscheinlichen Daseinsbereichen entfaltet, ein Schein, dessen Licht die Räume zwischen Begriff und Wirklichkeit niemals gänzlich auszuleuchten weiß, das sind auch die Bereiche, die Martin Seel interessieren.

In der Spalte zwischen Literatur und Philosophie eröffnet sich Seel eine Möglichkeit der Wirklichkeitsdeutung, die sich von den „ausgeschilderten Routen“ (7) der herkömmlichen Logosversessenheit wegbewegt und dadurch eine ästhetisch-ethische Vervielfachung der Weltbeziehungsweisen nach sich zieht. Gerade erst der Wille zur bürokratischen Kontrolle der Wissensorganisation, der sich eben auch in den disziplinären Grenzziehungen der Wissenschaften niederschlägt, verunmöglicht konstellatives Denken, wie es beispielsweise Theodor W. Adorno im Sinn hatte; Ein Denken also, das sich durch sein relationierendes Arrangement den Gegenstand der Erkenntnis erst erschafft, kein verdinglichendes Einverleiben, sondern ein offenes Erfahren.

Gerade das Gegenteil ist jedoch der Fall wenn Gattungsdifferenzen zwischen Literatur und Philosophie etabliert werden und in bestem Falle philosophierende Literaten bzw. literarische Philosophen als Protagonisten auf der Bühne des Feuilletons auftreten[1]. Seel ist nun ein Grenzgänger, der sich nicht vereinnahmen lassen will, weder von der einen noch von der anderen Seite. Weil, ja gerade weil zwischen den beiden Polen so immenses Potential liegt, das es zu entfalten gilt. Doch das zentrale Gedankengebilde, das Seel in stilistischer Brillanz in kurzen Absätzen ausbreitet, besteht darin, Kommunikation als Kampffeld zu betrachten, in diesem die Sprechenden stets recht haben wollen. Was aber, wenn dies nicht der Fall ist, und was aber, wenn die sogenannten großen und größten Köpfe in der Geschichte des Menschen, sich durch ihre spezifische Art des Denkens ausdrückten, die des nichtrechthabenwollens? Was, wenn die großen Würfe der Philosophie nicht die sind, mit deren Hilfe man die Welt in ihrer Ganzheit einfängt, oder letztlich nicht die sind, mit deren Hilfe man sich einen Durchblick verschaffen kann?

Seel legt kein Programm dar, er propagiert mit seinem Schreiben auch keine Abkehr vom Sinn, er versteht es nur auf vorzüglichste Weise, die atmosphärischen Begebenheiten des Lebens in unserem Inneren wachzurütteln, auf deren Untergrund sich erst formiert, was wir mit den Brillen des Sinns stets auszublenden versucht sind. Im Schreiben und Denken bedeutet dies, schreibend denken und denkend schreiben, sich also auch über die Form dem Inhalt anzunähern: „Es kommt zu Gehör, wenn die Erzählung das Erzählte, der Gesang das Gesungene, das Denken die Gedanken, die Argumentation das Argument übertont, womit das Hintergründige vordergründig und das Vordergründige hintergründig wird.“ (34)

Hier liegt ein außeralltäglicher Text vor, der im intensiven Kontakt mit anderen außeralltäglichen Text steht, sich mit diesen anverwandelnd und eben dadurch lebensverwandelnd auseinandersetzt.  Zweifelsohne auch ein weiterer Beleg für die herausragende Editionsarbeit der Wissenschaftsreihe im S. Fischer Verlag.

Raffael Hiden

[1] Siehe: Sloterdijk, Peter (2018): Polyloquien. Ein Brevier. Zusammengestellt und mit einer Gebrauchsanweisung versehen von Raimund Fellinger. Suhrkamp: Berlin.