Zur Vitalität von Augusto Boals Erbe im aktuellen Diskurs der Theaterpädagogik
Hahn, Harald (Hg.) 2018, Theater der Unterdrückten als Mosaikstück des gesellschaftlichen Wandels. Einblicke, Ansichten und Projekte. Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten. Band 9, Stuttgart, ibidem, 19,90 €, ISBN: 978-3-8382-1215-9
Im mittlerweile neunten Sammelband der Reihe „Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten“ (ibidem-Verlag 2018) wird ein reichhaltiges und vielschichtiges Panorama aktueller Projekte und Personen entworfen, die sich mit den theatralen Methoden und Techniken von Augusto Boal auseinandersetzen bzw. diese fortführen. Anhand von neun Texten formiert sich ein wahrlicher Regenbogen der Innovation, der das lebendige boalsche Erbe an der Schnittstelle zwischen Sozialpädagogik, Theaterpädagogik, Theaterwissenschaft, Empowerment-Projekten und Aktionstheater zu verorten weiß.
So berichtet Sophia-Marie Böhmer im ersten Aufsatz über ihre kulturelle Bildungsarbeit am Beispiel der ‚Klimafresser‘: Ein „mobiles Aktionstheater“ (11), das die Wechselbezüge zwischen Klimawandel und Ernährung spielerisch und unter Einsatz von TdU-Methoden an niedersächsischen Schulen problematisieren will. Sanjay Kumars Erfahrungsbericht bietet einen übersichtlichen und kompakten Einblick in die theaterpädagogische Projektarbeit mit Geflüchteten. Dieses Beispiel zeigt konkrete Implikationen des TdU hinsichtlich partizipativer Theateransätze auf, indem es reale Biografien bzw. tatsächliche Lebenswelten zum theatralen Stoff macht, um über diese virtuelle Bedeutungsverschiebung alternative „Handlungsstrategien für die Zukunft“ (35) zu ermöglichen. Mit analogem Anliegen behaftet, ist auch der Erfahrungsbericht von Özge Tomruk zu lesen, die als zertifizierte Action-Theatre-Lehrerin tätig ist und diese innovative „körper- und bewegungsorientierte Improvisationsmethode“ (80) als Erweiterung des TdU etablieren möchte. Über den expliziten Einsatz von Körperlichkeit (Somatisches Lernen) und das bewusste Zusammendenken von Inhalt und Form sollen die Erlebnis- und Wahrnehmungsmöglichkeiten der Mitwirkenden verstärkt werden. Tomruk erkennt dabei eine Querverbindung zur Resonanztheorie von Hartmut Rosa und stellt somit (implizit) zugleich einen Bezug zu Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Leiblichkeit her. Am meisten überzeugen kann der Beitrag von Birgit Fritz, die als Theatertherapeutin und – pädagogin in Wien tätig ist. Rund um den Spielraum ‚Dramatischer Realität‘ legt sie dar, inwiefern imaginative Potentiale in der ästhetischen Praxis verkörpert werden und wie diese Repräsentationen unmittelbare Auswirkungen und Modifikationen im lebensweltlichen Kontext von Akteur*innen zur Folge haben.
Die Vorzüge des Bandes liegen eindeutig in der Herausarbeitung eines Plädoyers für eine unaufhebbare Trennung zwischen Theorie und Praxis im Zusammenhang des TdU. So werden unterschiedlichste Problemfelder und Anwendungsmöglichkeiten beleuchtet und mit subjektiven Erfahrungsberichten und Eindrücken angereichert, was das intersubjektive Nachvollziehen der Praxis eben auch durch die bloße Lektüre wesentlich erhellt. Bedauerlicherweise haben sich auf editorischer Ebene jedoch übergreifende und stellenweise haarsträubende Fehler eingeschlichen, die sowohl die wissenschaftliche Zitation als auch die reine Textaufbereitung (Formatierung) betreffen. Insbesondere der letzte Beitrag wirkt vielmehr wie eine Arbeitsgrundlage bzw. bruchstückhafte Selbstverständigung des Autors, denn eine sorgfältig lektorierte Argumentation. Positiv zu bewerten sind indes die den Sammelband abrundenden Praxisübungen der Autor*innen, die anschauliches Material für theaterpädagogische Handlungsfelder bereitstellen.
Raffael Hiden