Tilman Allert, 2015, Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge. Frankfurt am Main, S. Fischer Wissenschaft
Soziologie ist eigentlich eine Disziplin der Merkwürdigkeitsbeobachtung, konstatiert Tilman Allert in einem Radiointerview[1], das anlässlich seiner als Reihe geplanten „Soziologie der kleinen Dinge“ geführt wurde. In den Gleichförmigkeiten des Alltags, in den Dingen des täglichen Gebrauchs erkennt Allert „elementare Formen des sozialen Lebens“ (233), anhand derer gesellschaftliche Semantiken und deren reflexive Selbstauskünfte darüber symbolhaft ausgedrückt werden. Auf der Suche nach „Splittern des Sozialen“ (233) eröffnen sich Allert reichhaltige Möglichkeiten zur soziologischen Interpretation. „Im zarten Format des Essays“ (235) werden Grußformeln, Transformationen in der Ausgestaltung von Tisch- bzw- Essritualen, verschiedenste Sozialfiguren des postmodernen Lebensstils, Meerjungfrauen-Schwimmkurse, das schwindende Ansehen des Hausmeisters, Jil Sanders Biografie und Angela Merkels Raute zu symbolischen Codes einer zunehmend zeitdiagnostisch operierenden Soziologie.
Die dabei sichtbar werdende neologistische Innovationskraft scheint gemeinhin unerschöpflich; ein Kampffeld formiert sich und streitet sich um das adäquatere Etikett, wenngleich die Argumentation sich inhaltlich weitestgehend ähnelt. Ein Etikettenschwindel tritt hierbei eher zutage, der die neoliberale Produktion des Selbst auf die Reflexionsebene der wissenschaftlichen Beobachtung verschiebt und dort dann vielmehr der Logik dieses Spiels folgt als diese performatorisch zu entlarven. Begriffe wie Multioptionsgesellschaft, Eventgesellschaft, Erlebnis- und Spaßgesellschaft oder – noch kreativer – eine „Schmetterlingsgesellschaft“ (Prisching 2009: 28) umschreiben spätmoderne Gesellschaftsformationen, in denen übergreifende Sinnzusammenhänge Risse bekommen und zusehends erodieren. Sie zerbröseln, so die Argumentation, weil die Vervielfältigung der Handlungsoptionen gerade durch den Imperativ zur Erlebnissteigerung normativ eingefordert und eben über die Prozesse der Enttraditionalisierung und Entobligationierung einzulösen versucht wird.
Über diese Entwicklungstendenzen ist sich der emeritierte Professor für Bildungssoziologie an der Frankfurter Goethe Universität im Klaren und er weiß auch um den symbolträchtigen Wert seiner Wirkungsstätte Bescheid. Sich seiner wirkungsgeschichtlichen Verantwortung bewusst, unternimmt er den Versuch die Prämissen der Kritischen Theorie auf ihre Entstehungsbedingungen hin zu revitalisieren. Dies gelingt durch die phänomenologische Akzentuierung im Blick auf das Soziale: zurück den Dingen des Alltags ist somit das Credo einer Soziologie der kleinen Dinge. Wie offenbaren sich uns diese, wie, wo und wann setzen wir diese ein und wie gestalten diese einen gemeinsamen Bedeutungshorizont?, das sind die zugehörigen Forschungsfragen, die Allert im ersten Band der Reihe exemplarisch diskutiert. Freilich profitiert dadurch die sich offenbarende Themenvielfalt. Farbenreich und vielseitig legt Allert seine Beobachtungen in einer soziologisch geschulten Sprache dar. Was sicherlich stellenweise dazu führt, dass der oftmals vorgebrachte Vorwurf einer abstrakten und schwer zugänglichen Fachsprache dadurch eher bestärkt als entkräftet wird. Auch wenn die im Band zusammengetragenen Essays größtenteils vorab in der FAZ erschienen sind, fördert Allerts Sprachduktus die Kritik eines Soziologesisch.
Davon einmal abgesehen, bietet das Buchprojekt aber eine abwechslungsreiche, klug ausgearbeitete Schatzkiste an Beobachtungen von Gegenwartsphänomen, die facettenreich und innovativ gedeutet, in neuartigen Sinnzusammenhängen präsentiert werden. Aus der Sicht des Verlags mag es zwar aus absatzfördernden Motiven nachvollziehbar sein, das Buch mit dem Modegetränk Latte Macchiato zu betiteln. „Minima socialis“, der persönliche Vorschlag Allerts, hätte wohl auch seine Vorzüge gehabt, wenngleich die inhaltliche Ausgestaltung naturgemäß in der Bewertung von Büchern überwiegen sollte.
Und wer überhaupt noch tiefer in der Schatztruhe suchen will, wird eine noch brillantere Soziologie der kleinen Dinge bei Georg Simmel finden. Soziologie der Sinne[2], unsere Empfehlung zum Einstieg. Klein werden diese Soziologien deshalb bezeichnet, weil sie Dinge in den Mittelpunkt stellen, die durch die hegemoniale Logik zu Epiphänomen, Randerscheinungen des Großen erklärt werden: Groß sind sie jedoch zweifelsohne, ganz besonders wegen ihrer stilistischen Gestaltungs- und argumentativen Ausdruckskraft.
Raffael Hiden
Literatur
Prisching, Manfred (2009): Das Selbst. Die Maske. Der Bluff. Über die Inszenierung der eigenen Person. Molden: Wien – Graz – Klagenfurt.
Verweise
[1] https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/zeitgenossen/swr2-zeitgenossen-tilman-allert-soziologe/-/id=660664/did=19914724/nid=660664/1hnb884/index.html
[2] http://socio.ch/sim/verschiedenes/1907/sinne.htm