Castorfs HUNGER : Eine Verrätselung

Halsbrecherische Stöckelschuhe werden holprig  über das Halleiner Kopfsteinpflaster an jenem 11. Augustabend geschleppt. Es ist Festspielzeit, die Prämiere von HUNGER hat bereits für Wirbel gesorgt, die Publicity stimmt.

Heute ist das Wetter lau, hitzebedingte Ausfälle auf der Perner-Insel sind nicht zu argumentieren. „Ich bleibe eh nur bis zur Pause“, flötet der adrett gekleidete, grauhaarige Mann mit dem Brustton der Sensationsgier neben mir. Sitzfleisch wird allemal eingefordert, die Inszenierung zieht sich über fünfdreiviertel Stunden, Pause inklusive.

Nun kann diese Aufführung aus mehren Perspektiven besprochen werden, lange und ausführlich. Auffallend etwa: Nestlé sponsert das Schauspiel, McDonald’s wird gleichzeitig von Frank Castorf als Sinn-Bühnen-Bild eingesetzt. Das Stück beruht auf zwei Romanen (Hunger, 1890 und Mysterien, 1892) des heftig disputieren und kritisierten Knut Hamsun, der sich den Nazis anbiederte und ideologisch mit ihnen zog. Politik, Kapitalismus, Sozialkritik… Die Themenlandschaft ist vielgestaltig, innerlich wie äußerlich. Castorf versucht vieles zu verarbeiten.

Wirklich hervorragend indessen gelingen Castorfs dialogische und wechselwirksame Interaktions-Interpretationen.  „Es geht nicht nur um Verständigung, es geht auch um Verrätselung. [1]“, konstatiert Castorf in einem Konzeptionsgespräch. Was zu erahnen war, beweist sich: Castorf hat einiges mit Dostojewski am Hut, und Hamsun hatte das gleichfalls.

Es sind dann also diese unwiderstehlichen Dialoge, die das Stück tragen, die u.a. durch Dostojewski und nachfolgend etwa durch Kafka das Zwischenmenschliche von Typenzwängen befreien. In diesen Dialogen werden das sich gerade zutragende Sein, das Bewusstsein und seine Ambivalenzen in den Mittelpunkt der Unterhaltung gerückt, das Banale, das Schöne, das Hoffnungslose und das Tieftragische wechseln sich innerhalb eines szenischen Liebesspiels gänzlich unbefangen ab. Gespräche erfahren eine unaussprechliche Lebendigkeit, mit größter Neugier gilt es diesen Prozess zu bestaunen. Inhaltlich umfassend folgen muss man hierfür gar nicht können. Das alltäglich Groteske des Lebens wird aufgeführt. HUNGER bietet sich dafür zweifellos in allen Facetten an.

Großteils atemberaubende schauspielerische Leistungen vollführen diesen Interaktionstango. Formal und ästhetisch fährt Castorf  einige Kunstkniffe auf: Gespräche werden begonnen und enden zentriert in einer Figur, die den gesamten Text übernimmt und sich mit der anderen Figur fusioniert. Türen öffnen unvermittelt in der Unterhaltung das Fenster zur Vergangenheit, die sprachliche Zeitform wechselt mit. Monologe, Dialoge, Trialoge – und dazwischen hineingestreut, soulstimmgewaltig: „I’m going to McDonald’s, every night, every day“. Das Bühnenbild atmet. Die Möglichkeiten scheinen unendlich. Videosequenzen öffnen Räume.

Der Einsatz solcher Videosequenzen ist nicht neu, immer öfter zu erleben. Das ist durchaus verständlich und begrüßenswert; verlangt zugleich nach einem Augenmaß, das Castorf in der zweiten Hälfte beinahe verliert. Und dennoch saugen die Poren der Schauspieler_innen in HD die Zuschauer_innen immer noch weiter hinein in diesen erkannbaren Irrsinn des HUNGERS und der MYSTERIEN, ohne dabei den Humor verlieren zu müssen. Manche von jenen, die bleiben – und es sind viele – reißen sich zu Standing Ovations hin.

Karin Scaria-Braunstein

[1] Programmheft HUNGER 2018: Castorf, Frank: Einem Teufel auf den Schwanz treten. Aus dem Konzeptionsgespräch am 3. Juli 2018, Perner-Insel.