Über das künstlerische Gestaltungspotential im soziologischen Denken und mögliche Entgrenzungen der disziplinären Matrix
Raffael Hiden im Gespräch mit
Lukas Pürmayr
Raffael: Soziologisches Denken und künstlerisches Gestalten, ein Widerspruch? Gibt es für dich Brücken oder Verbindungslinien zwischen Soziologie und Kunst?
Lukas Pürmayr: Für mich persönlich kein Widerspruch an sich, aber trotz vorhandener Parallelen sollte ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass es sich um unterschiedliche Fachrichtungen handelt. Parallelen finde ich zum Beispiel im Reflektieren über gesellschaftliche Vorgänge, welches meines Erachtens in der Soziologie als notwendig erscheint. In der Kunst kann diese Reflexion für mich zwar als Mittel dienen, und ich messe dieser auch einen bedeutenden Stellenwert zu, aber eine Auseinandersetzung kann ganz anders wie in der doch wissenschaftlich-rationalen Soziologie funktionieren. Dabei spielt die Unterscheidung des Rahmens und des Zugangs eine wichtige Rolle. Meiner Meinung nach muss Kunst nichts, Kunst darf. Für mich ist die angewandte Kunst keine Wissenschaft, so wie die Soziologie, dafür spricht meines Erachtens auch die Möglichkeit der Irrationalität, Spontanität und Freiheit des Handlungsrahmens im Künstlerischen. Trotz der breitgefächerten Themengebiete der Soziologie scheint mir dort immer eine gewisse Referenz und ein Rahmen vorgegeben zu sein. Auch in der Kunst ist Geschichtlichkeit und Referenzialität ausschlaggebend, aber welchen Einfluss diese auf die Arbeit einnehmen und welcher Rahmen dabei entsteht, darf meiner Meinung nach viel freier, und weniger greifbar gestaltet werden. Brücken sehe ich vor allem in der Interaktion und dem gegenseitigen Ergänzen beider Fächer. Die Kunst, das künstlerische Gestalten funktioniert nur in einer sich global verstehenden Gesellschaft oder durch eine Reaktion dieser, damit ist sie für mich auch Teil der Soziologie, und umgekehrt. Aber was ist schon Kunst?
Raffael: Hat die soziologische Denkweise das Potential, dich in deinem künstlerischen Schaffen zu unterstützen?
Lukas Pürmayr: Ja. Durch mein dreijähriges Studium der Soziologie, haben sich mir auch andere Blickwinkel auf die sogenannte Wirklichkeit eröffnet, die ich alleine durch die Kunst ganz anders erfahren hätte. Da ich mich in der Kunst unter anderem mit politischen Themen befasse, bietet mir die Soziologie dabei auch eine Stütze, um dadurch einen objektiveren, wertfreieren Zugang zu finden, den ich bei politischer Kunst anstreben möchte. Da setze ich auch Grenzen. Ich sehe mein künstlerisches Schaffen vor allem als Prozess, bei dem mich auch die Soziologie – neben vielen anderen Gebieten – begleitet.
Raffael: Ich denke der Verlust gesellschaftskritischer Perspektiven limitiert das kreative und gestaltende Potential der aktuellen Soziologie. Die Sozialwissenschaften sollten meines Erachtens alternative Narrative erschaffen, neue Perspektiven und Sinnzusammenhänge aufzeigen, die eben bewusst mit der gelebten Wirklichkeit brechen. Ist das Verständlich-Machen von sozialen Interaktionen und gesellschaftlichen Prozessen insofern nicht selbst schon ein künstlerischer Akt?
Lukas Pürmayr: Ich finde bei dieser Fragestellung merkt man auch eine Grenze, die sich die Soziologie setzt und in der sie sich bewegt. Das finde ich sehr wichtig, gerade in der Forschung diese Limits auch zu erfahren und zu erkennen. Wenn es um das Ausbrechen aus diesen Grenzen geht, kann das meiner Meinung nach auch als künstlerischer Akt verstanden werden. Vielleicht ist genau dieser Bruch notwendig, um das Handlungspotenzial der aktuellen Soziologie zu optimieren. Ob die Kunst Grenzen hat, kann ich für mich noch nicht eindeutig beantworten. Wissenschaft und Forschung haben sich meiner Meinung nach immer auch mit Ideen befasst und eben diese gesucht, die noch nicht greifbar gemacht wurden. Wenn die Kunst ein Mittel dazu sein kann, warum nicht?
Raffael: Wie siehst du das Verhältnis zwischen Soziologie und Kunst in institutioneller Hinsicht? Kann Kunst unterrichtet oder gelehrt werden? Wie empfindest du das? Ist es dann eher kooperatives Gestalten auf Augenhöhe?
Lukas Pürmayr: Bei beiden Fachrichtungen finde ich die Frage der Institution interessant, aber zugleich auch problematisch. Diese würde vermutlich zu einer längeren Bildungssystem-Diskussion weiterführen, die ich jetzt außer Acht lassen möchte. Ein Bewusstsein sowie einen Zugang zur Soziologie und Kunst muss meiner Meinung nach nicht institutionell geschehen. Auch außerinstitutionell gibt es für beide Richtungen Möglichkeiten sich weiter zu bilden.
Raffael: Nun: Kann Kunst unterrichtet oder gelehrt werden?
Lukas Pürmayr: Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es keine einheitliche Antwort auf den Zugang zur Kunst und ihr Verständnis gibt, was das Lehren folglich auch interessant macht. Wenn wir Kunstgeschichte als Teil davon sehen, ja. Aber unterrichten ist vielleicht auch das falsche Wort dafür, vielmehr geht es meiner Meinung nach um eine Sensibilisierung und ein Verständnis, das gefördert werden kann. Das kann an einer Universität aber auch im Café um die Ecke passieren. Ich denke, die Kunst lebt auch viel durch Diskurs und Austausch, der in einer Kunstinstitution auch konzentriert ermöglicht wird. Dieser gemeinschaftliche Austausch, die Kritik und Konfrontation kann folglich auch sehr lehrreich sein, und zu weiteren Prozessen oder Ideen führen. Was ich mir erhoffe, ist eine Motivation, die KünstlerInnen dazu ermutigt, ihr Schaffen immer wieder aufs Neue herauszufordern und Fragen zu stellen. Ob dazu eine Institution nötig ist, ist wohl eine sehr individuelle Einstellung.
Im Vergleich zur institutionellen Soziologie, die ich erfahren habe, ist die Kunstakademie, an der ich jetzt studiere, um Welten freier. Und das ist gut so, weil mehr Raum vorhanden ist, um sich kreativ zu entfalten. Ich denke auch, dass diese „Freiheit“ auch institutionellen Soziologien guttun würde, da ich das Fach zuallererst als rational-wissenschaftlich erfahren habe. Ich fragte mich oft, inwiefern die Soziologie aber auch außerhalb der Institution gelebt wird. Hier gibt es schlicht und einfach unterschiedliche Ansprüche an die Soziologie und das soziologische Denken an sich. Ein Wunsch wäre es sicher, auch eine Soziologie voranzutreiben, die es schafft, Grenzen aufzubrechen, mehr auf Augenhöhe interagiert und trotzdem eine gewisse Objektivität behalten kann.
Raffael: Kann es so etwas wie eine soziologische Kunst geben? Eine Kunst, in der die Soziologie Kunst nicht bloß analysiert und beschreibt, sondern in der das soziologische Denken dem künstlerischen Gestalten immanent ist.
Lukas Pürmayr: Ja, warum nicht! Ich denke, die Kunst sollte nicht so streng gedacht werden, das finde ich auch schön, weil künstlerisches Schaffen auch so trivial sein kann, ohne das auf die Soziologie zu beziehen. Kunst ist nicht heilig, Soziologie ist nicht heilig, was ist schon heilig, ob es jetzt um Analyse gehen soll oder um künstlerische Gestaltung ist relativ. Soziologie kann meiner Meinung nach durch eine künstlerische Relationierung was ganz anderes sein, wenn sie möchte. Die Entfremdung oder die Aneignung von Themen, und solls die Soziologie sein, ist auch ein Mittel, mit dem die Kunst spielt und spielen darf. Ich denke, es sollte mehr gespielt werden.
Weitere Infos unter: https://lukaspuermayr.com/