„Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr […]“
Ingeborg Bachmann
Die Zeichen der Zeit, sie deuten auf einen radikalen Umbruch des Status quo hin. Das, was die westlichen Demokratien mit so viel Stabilität, so viel Wohlstand und so viel Zukunftsoptimismus ausgestattet hat, es erodiert zusehends. Die Fassaden des europäischen Gemeinschafsprojekts beginnen sich langsam aber sicher aufzulösen, der europäische Geist, das Leitbild funktionierender Demokratien, zusammengehalten durch den humanistischen Klebstoff, die Phasen der wirtschaftlichen Hochkonjunktur, all das, was jahrzehntelang als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurde und jedem Einzelnen und jeder Einzelnen Sicherheit garantierte, wird durch orkanartige Böen kräftig durcheinandergewirbelt.
Das Klima wird rauer, kälter, nicht ausschließlich wärmer. Es geht kein Geist mehr um in Europa, es geht vielmehr ein kräftiger Wind, der alles Geistige und eben deshalb alles Menschliche vereisen und somit erstarren lassen will. Dieser Wind wird vorangetrieben, effizient und zielbringend in Szene gesetzt durch etwas, das funktioniert; ja, auf Gehör stößt und sich dadurch festsetzen kann. Man weiß nicht so recht warum, man spürt vielmehr ein Drehen des Zeitgeistes, die Perspektive verschiebt sich und vernebelt den Blick auf Vergangenes und die Zuversicht auf die Zukunft. Verengt wird der Standpunkt auf den Stand, punkt. Das, was ist, gilt es zu verteidigen, zu legitimieren, zu beschützen. Doch wogegen eigentlich? Wogegen?
Im Konzert der Mächte erspielen sich machtbesessene Autokraten mit demokratischen Masken den Platz der ersten Geige. Sie rütteln unzweideutig und heftig am mühsam durch den Ausgleich der Interessen erarbeiteten Fundament, auf dessen Boden das europäische Erfolgsmodell gedeihen konnte. Sie befestigen auf diesen fruchtbaren Boden ihre Fahnen, auf denen sie ihr Erfolgsmodell schreiben: „Grenzen“, steht darauf. Und sie verstehen es zweifelsohne den nötigen Wind zu produzieren, in diesem die Fahnen eindrücklich zu schwingen lernen. Ja, die Kunst des Fahnenschwingens ist eine Kunst, die gerade darin besteht, die Deutungshoheit über den Stimmungswind zu kontrollieren. Wie so oft in Sachen Kunst, lässt sich jedoch nicht entschieden sagen, worin ihre eigentümliche Technik, ihre handwerkliche Gestaltungseigenart besteht. Man weiß nur, dass es wirkungsvoll ist. Demnach besteht der illusorische Fehlschluss darin, zu glauben, man muss die Machtstrategien, die für die Kontrolle der Stimmungen ausschlaggebend sind – offenlegen, und noch viel mehr offenlegen, ins Bewusstsein rufen, um überhaupt begreifen zu können. Nein, den Wind aus den Segeln nimmt man denen, indem man den Boden bewirtschaftet, dessen Fruchtbarkeit unterstreicht und auf seine Alternativlosigkeit – mit Nachdruck – hinweist. Dieser Boden verkümmert und die Nutzflächen verschlechtern sich, zum Beispiel wenn dieser Wind direkt und ohne Gegenwind wehen kann. Stets nur das ist wahr, was ein Gegenteil hat, auf Gegenwind stößt. Sich dadurch selbst aber nicht höher nimmt, als wichtiger erachtet, sondern achtet, dass die Grenze aller Grenzen augenscheinlich selbst eine Grenze ist, vielmehr eine sein muss. Über die Differenzen, über den respektvollen Umgang mit Grenzen, lernt man sich selbst kennen. Also heißt es im Gegenwind: Auch den Grenzen gehören Grenzen gesetzt und wer sowieso nur von Grenzen spricht, ist selbst, mit großer Wahrscheinlichkeit, begrenzt. Wir dürfen unsere Fahnen in Brüssel nicht auf Halbmast stellen, wir müssen unseren Boden wieder nutzen lernen, auf ihm leben, von ihm essen und mit ihm planen.
Raffael Hiden