DU GINGST FORT – Ein gewaltiger Theaterabend über Landflucht und Heimatgefühl

Menschen verlassen das Land. In der Steiermark gibt es Gebiete, in denen die Abwanderung in den letzten Jahren zu einem massiven Problem wurde. Andere Gemeinden verzeichnen einen starken Zuzug. Abwanderung aus ländlichen Gebieten ist ein seit Jahren intensiv diskutiertes und viel beforschtes Thema. Und dennoch stellen wir uns immer wieder die gleichen Fragen: Wer wandert aus der Provinz ab und warum?

Das feministische Theaterkollektiv Die Rabtaldirndln zeigt auf, dass es darüber noch viel zu erfahren gibt.

Zu Beginn der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ab- und Zuwanderungsmotiven sowie Bleibemotivationen wurde insbesondere die Bewertung der Arbeitsmarktsituation als „Rationale“ Push- und Pull Faktoren[1] untersucht. Bald wurde aber deutlich, dass es weit mehr Beweggründe für Menschen gibt, aus ländlichen Regionen in Städte abzuwandern. Immer wieder werden seither neue individuelle Ursachen aufgezeigt und damit verdeutlicht, wie komplex das Thema tatsächlich ist. Heute wird vor allem von „harten und weichen“ Faktoren[2] gesprochen.

Oft fehlt jedoch noch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik auf einer emotionalen und sozialpsychologischen Ebene. Die Rabtaldirndln greifen mit DU GINGST FORT (Erstaufführung 2015; 50er Vorstellungsjubiläum am 09.07.2020; Regie: Ed. Hauswirth) gleichzeitig mehrere heiße Eisen an. Auf Basis von 4 Interviews mit ihnen nahestehenden, weggegangenen Personen gründen sie eine Task-Force.

Babsi, Rosi, Gudrun und Bea untersuchen dabei nicht nur die Motive der Abwander*innen. In dieser vielschichtigen und zugleich niemals überladenen Performance werden in einem Wechselspiel Interviewzitate vorgetragen, in ihnen nach Hinweisen und Beweisen für die Abwanderung gesucht, die Beziehungen zu den Personen unter die Lupe genommen und immer wieder das eigene Kollektiv auf Herz und Nieren geprüft.

Die Rabtaldirndln fragen sich zugleich auf einer Meta-Ebene: Was geht eigentlich im Theater heute noch? Kann Off-Theater nach Heimat fragen? Der Heimatbegriff steht in der Betrachtung der Motivationen stets unaufdringlich im Mittelpunkt. Denn Heimat drückt sich in vielen Gestalten aus. Mittels der Interviews wird ersichtlich, dass Heimat für die vier Personen eine ambivalente Idee ist.

In einigen wissenschaftlichen Studien wird aufgezeigt, dass Frauenabwanderung – etwa in der Oststeiermark – verstärkt zu verzeichnen ist. Politisch werden vorwiegend fehlende Infrastrukturen und insbesondere der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen dafür verantwortlich gemacht. Ganz so simpel ist es nicht. Gefühle der Verbundenheit mit Heimatgemeinden sind nicht einfach nachzuspüren. In einem im Stück vorgetragenen Interview zeichnet sich die Hin- und Her-Gerissenheit einer Frau ab. Die Zukunftsperspektive in ihrer Kindheit und Jugendzeit war so erdrückend, dass ihr späteres Hausfrauendasein einen riesen Schritt nach vorne und in Richtung Emanzipation für sie bedeutete. Familie hat für sie aber immer einen hohen Wert behalten.

Doch auch die Motive von abgewanderten Männern gilt es zu untersuchen. Davor scheuen Die Rabtaldirndln nicht zurück und beweisen in einem empfindsamen Interview, dass Männer am Land mit zahlreichen Klischees zu kämpfen haben. Wer hier aus der Rolle fällt, wird sanktioniert.

Menschen am Land stehen zueinander meist in engen Beziehungen. Diese Beziehungen sind häufig traditionell machtstrukturiert. Das beginnt bei der eigenen Familie und endet am Gemeindeamt. Es engt ein und gibt Halt. Über Vereinszugehörigkeiten (oft weitervererbt wie einst die Zunftzugehörigkeit) verfestigt sich das Wir-Gefühl. Das kann zusammenschweißen und gleichzeitig erdrücken. Aber auch ohne Vereinsmitgliedschaft: Die Herkunft kann nicht abgeschüttelt werden. Wenn Menschen die Entscheidung treffen, diese Gemeinschaft zu verlassen, ist das mitunter ein für alle Seiten schwieriges Unterfangen.

Die „neue Heimat“ (dafür gibt es zahlreiche Begriffe und viele Diskussionen) muss sich nicht immer als das „gelobte Land“ erweisen. In der Rückschau wird die Zeit in der Heimatgemeinde manchmal verklärt. Zugleich wird den „Ausheimischen“ nun mehr Beachtung geschenkt. Sie werden als wichtige „Ressource“ erkannt. Nicht zuletzt, wie auch in DU GINGST FORT, als Informationsquelle. Der Trend zeigt Richtung Bürger*innen-Potentiale und Beteiligung.

Die Rabtaldirndln beschließen für ihr eigenes Kollektiv eiserne Regeln. Verlassen wird niemand. Landleben ist schön. Und kann wehtun. HEIMAT kann wie eine Panier an dir picken.

Karin Scaria-Braunstein

[1] nach Lee,  Everett  S.  (1972):  „Eine  Theorie  der  Wanderung“;  in:  Széll,  G.  (Hg.):  Regionale  Mobilität, München, S.115-129.

[2] siehe etwa Cortie, Sabrina (2009): Weiche Standortfaktoren als Angelegenheit der kommunalen Wirtschaftsförderung, IGEL Verlag.
Sowie  Dietersdorfer, Lisa/Lampl, Anna/Rosegger, Rainer/Tiffner, Gerfried (2014): WEGGEZOGEN – Ergebnisse einer empirischen Studie über Abwanderung aus der Region Steirische Eisenstraße; im Auftrag von: Verein Steirische Eisenstraße Eisenerz.