Gedanke zur Prokrastination

Was im Prokrastinieren zum Audruck kommt, ist nicht nur der intensive Drang und nicht nur das innerlich als unausweichlich empfundene Streben nach Vertagung oder Verzögerung von Aufgaben, die man sich selbst auferlegt hat. Vielmehr lassen sich daraus weit verbreitete und dadurch allgemeine Bedeutungsaspekte unserer aktuellen Kultur ablesen;  Dieter Thomä diagnostiziert dieser die sogenannte Zeitkrankheit  „Gegenwartsversessenheit“. Was aus vielen sogenannten Gegenwartsdiagnosen bekannt ist, beschreibt die Diagnose zwar einen gewissen Symptomkomplex, dieser umschreibt aber und steht sozusagen sinnbildlich für die Verfasstheiten von Gesellschaften. Was die Prokrastination nun mit der Gegenwartsdiagnostik zu tun, erschließt sich schon dadurch, dass diese als konstruierte Krankheit symbolisch repräsentiert, was uns ausmacht: Wer prokrastiniert, schiebt auf, was eigentlich zu erledigen ist.

Die Folgerung: Gegenwartsversessene Gesellschaften wollen festhalten, was doch so schön sich im Gange befindet. Die Welt erschlossen wird hier nicht aktiv, die Welt bleibt geschlossen, passiv: Erstens durch die Konstruktion von Krankheiten, in die sich Menschen einfügen – bloß weil es sie gibt – und zweitens durch die Unmöglichkeit, Aktivität mit dem gleichzeitigen Drang zum Festhalten dieser Aktivitäten in Form von Videos und Fotos zu kombinieren. Selbst sein, ohne sich selbst beim sein zu beobachten: Leben.

Es gibt diese Operette, fällt mir soeben ein, in der es heißt: „Mach dir nichts draus und denke dran: Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist!“ Suchen Sie den Titel der Operette, sofort, ohne Aufschub.

Raffael Hiden