Literat_innen streiten gerne. Besonders heftig fiel der Disput um die Verleihung eines Preises für Meinungsfreiheit an „Charlie Hebdo“ aus: Hat das französische Satiremagazin diesen Preis für außerordentlichen Mut im Kampf für freie Meinungsäußerung verdient? Eine Analyse zeigt, dass honorige Literat_innen im Streit darum schlicht aneinander vorbeiredeten. Wie kann das sein?
Im Mai honoriert PEN Amerika auch heuer auf der „2018 PEN Literary Gala“ herausragende Leistungen. Vor gut drei Jahren schlug der Konflikt rund um die von diesem Center verliehene Auszeichnung unter Literaturschaffenden überraschend hohe Wellen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand allerdings nicht die Diskussion um Satire und die Grenzen der Meinungsfreiheit. Die Tatsache, dass die disputierenden Literat_innen wechselseitig nicht auf ihre Argumente eingingen, ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der sorgfältige Umgang mit Sprache doch ihr täglich Brot darstellt.
Ein kurzer Rückblick: Wenige Wochen nach dem 12 Todesopfer fordernden Anschlag auf Charlie Hebdo im Jänner 2015 nominierte das US-amerikanische PEN Center das französische Satiremagazin für einen neu geschaffenen Meinungsfreiheitspreis. Darauf drohten sechs durchwegs angesehene Literat_innen öffentlich mit einem Boykott der Preisverleihung. Dies war der Startschuss zu einem Wortgefecht, das u.a. in der britischen Tageszeitung „The Guardian“, auf der Webseite „The Intercept“, im Magazin „The New Yorker“ und im destruktiven Umfeld der neuen sozialen Medien ausgetragen wurde. Schließlich unterzeichneten mehr als 200 PEN-Mitglieder eine Petition gegen die Preisverleihung an Charlie Hebdo, darunter Joyce Carol Oates, Teju Cole, Deborah Eisenberg und Francine Prose. Ohne Erfolg, der Preis wurde im Mai 2015 verliehen.
Der Streit fand vorwiegend zwischen Literat_innen anglophoner PEN-Center statt. Auch die in England ansässige Dachorganisation der global agierenden PEN-Vereinigung mischte sich ein und stellte sich hinter das preisverleihende amerikanische Center. Das hat nicht zuletzt historische Gründe. Denn in den vergangenen, zahlreichen Konflikten der 1921 gegründeten Vereinigung, die sich der Förderung der Literatur und der Meinungsfreiheit verschrieben hat, bewiesen die englischen und amerikanischen Vertretungen oftmals einen starken Zusammenhalt. Im Charlie Hebdo-Konflikt votierten für die Auszeichnung konsequent jene Personen, die aktuell in einem der nationalen Clubs oder im internationalen PEN Funktionen ausübten – etwa John Ralston Saul (PEN International President von 2009-2015), Suzanne Nossel (Executive Director PEN America), Andrew Salomon (PEN America President), Jo Glanville (Director English PEN) und nicht zuletzt der seit 1989 mit einer Fatwa belegte Salman Rushdie (PEN America President von 2004-2006). Die Opposition stammte aus einer gemischten Gruppe von aktiven und ehemaligen PEN-Positionsträger_innen, etablierten Literat_innen und literarischen Newcomern.
Persönliche und berufliche Beziehungen standen zur Disposition: es wurde sogar mit dem Abbruch von Freundschaften gedroht. So richtete Salman Rushdie Francin Prose via Facebook aus: „But I fear some old friendships will break on this wheel”.
Unter den Preisverleihungsbefürwortenden aber auch ihren Gegner_innen bildeten sich während des Streits Bündnisse. Mit zunehmender Intensität der Auseinandersetzung schien das Bedürfnis nach gegenseitiger Unterstützung zu wachsen. Manch veröffentlichter Streittext entpuppt sich alsbald als Gemeinschaftsarbeit. Ein geteiltes Feindbild verbindet. Allerdings zielten die wenigsten Argumente auf die ursprüngliche Frage ab: Verdient Charlie Hebdo einen Preis für Meinungsfreiheit? Die Streitenden machten lieber die PEN-Vereinigung zum Thema des Disputs. Eine Grundsatzdebatte um die Kernaufgaben entbrannte. PENs Zustand wurde von den Preisbefürworter_innen als stabil gesehen, die Opposition, die ihre Gegenstimme als notwendiges Korrektiv verstanden wissen wollte, forderte eine stärkere Rückbesinnung auf den Wertekanon der Vereinigung und die damit verbundene Verantwortlichkeit abseits medienwirksamer Schlagzeilen. PEN müsse sich seiner Vorbildwirkung als Entscheidungsträger wieder bewusster werden, sonst, so die düstere Vorhersage, liefe die Vereinigung Gefahr, sich selber ad absurdum zu führen. Es gehe schlussendlich um PEN und nicht um Charlie Hebdo, betonte Deborah Eisenberg, und Francine Prose unterstrich, dass Terrorbekämpfung die Aufgabe der Regierung sei, nicht die der Vereinigung.
Auf der einen Seite wurde Loyalität eingefordert, auf der anderen Seite drängte man auf mehr Sachlichkeit und Professionalität. Jede Forderung für sich genommen vernünftig, im Konzert dennoch Disharmonie.
Die Angelegenheit war komplizierter. Denn die Aufteilung in „Pro“ und „Kontra“ wird unscharf, wenn die individuellen Motive der Streitenden in den Blick genommen werden. Hier lässt sich sowohl Verbindendes als auch Trennendes finden. Grundlegende Übereinstimmungen ergeben sich aus der gemeinsamen PEN-Mitgliedschaft. Bei Eintritt in die Vereinigung haben sich alle Mitglieder einer Charta, bestehend aus vier Artikeln, zu verpflichten. Die Charta wird von den Mitgliedern, wie sich analysieren lässt, in Form von Leitprinzipien durchaus ernstgenommen. Die Identifikation mit PEN versicherte auch Teju Cole, der nur für sich selbst sprechen wollte und sich als „free-speech fundamentalist“ bezeichnete, in seinem Statement.
Die subjektiven Interpretationen und Priorisierungen der vier Artikel sowie weitere persönliche Erfahrungen und Interessen führen jedoch zu Nuancierungen in deren Auslegung. Die Spannweite der verfolgten Ideale im gegenständlichen Streitfall reichen sodann von einer „besseren Welt“ (PEN America, ohne Angabe des Autors/der Autorin), über den „Glauben an Weiterentwicklung“ (Suzanne Nossel) bis hin zu „Individualität“ (Teju Cole), „Heilenden Debatten“ (John Ralston Saul) und „Wahrheit“ (Francine Prose).
Alleine, die Motive der anderen Seite wurden glattweg nicht erkannt bzw. nicht anerkannt. Und damit wurde auch die Chance auf eine Annährung vertan. Aufgrund der öffentlichen Austragung wurde der Disput um die individuelle Auslegung der PEN-Prinzipien in den Hintergrund gedrängt. Hinzu kam die Unerbittlichkeit, die ein Streit um Ideale von vornherein mit sich bringt. Nicht zu vergessen der Drang zur Selbstdarstellung und die Verdammung der Gegenseite.
Die neuen sozialen Medien eröffnen den streitenden Literat_innen viele Möglichkeiten, sie schränken aber zugleich ein. Eine schriftliche Kontroverse ist für alle Beteiligten ohnehin eine interpretationsaufwändige Angelegenheit. Auch für solche, die durch ihr alltägliches Geschäft darin geübt sein sollten. Twitter, Facebook & Co erschweren eine geordnete Auseinandersetzung. Aufgrund der Schnelllebigkeit dieser Medien ist eine aufeinander Bezug nehmende Debatte kaum mehr möglich. Die geforderte Spontanität zerstört die Streitkultur – auch in diesem Fall. Animositäten waren die Folge. Joyce Carol Oates sah sich gar mit einer Verleumdung konfrontiert und kritisierte die Respektlosigkeit gegenüber abweichender Meinungen. Alle Streitenden fühlten sich missverstanden, persönliche angegriffen und verpassten gleichzeitig oftmals die Argumente der Anderen.
Will man verstehen, warum die streitenden Literat_innen nicht um das stritten, was sie als Grund ihrer Einmischung nannten, muss bedacht werden, dass in einem solchen Streitfall zu viel durcheinander geht: Die PEN-Mitgliedschaft, die ihren Mitgliedern Treue zu Prinzipien abverlangt – und die aber unterschiedlich ausgelegt werden – eine verkürzte und einengende Parteinahme, die Verfolgung persönlicher Ziele und Ideale, die Verkennung der Motive der Anderen. Angesichts dieser Erkenntnisse lohnt es sich, weiter Streitigkeiten unter Künstler_innen näher zu betrachten.
Karin Scaria-Braunstein
Aus der Masterarbeit: „L’affaire Charlie Hebdo“ – Der Streit um die Vergabe eines Meinungsfreiheitspreises / Karin Scaria-Braunstein. Graz, 2016
Die Arbeit wurde mit dem „Preis für herausragende soziologische Masterarbeiten 2017/2018“ von der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie ausgezeichnet.
http://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/1520681