Person und Maske

Habjan, Böhm und die Projektion

Personen, die einem Publikum handlungstragend ein Spiel vorführen. So kann man das Geschehen umschreiben, das uns allen als Theater bekannt ist. Wir alle haben eine Ahnung vom Theater, gleichgültig ob passionierter Theaterbesucher oder Theaterbesucherin oder aber doch jemand, der oder die dem Theater mit völliger Gleichgültigkeit gegenübersteht.

Und schon wird die Ahnung verdächtig. Verdächtig im Sinne eines gefährlichen Halbwissens, denn gemein haben die geschulten Theaterbesucher_innen und die souveränen Theaternihilist_innen ein entscheidendes Merkmal: Sie sind Personen. Ebenso Personen wie auf der Bühne, die von Figuren bewohnt werden, die ihrem Wesen nach ausschließlich im Spiel und auf der Bühne versinnlicht sind. Es ist nämlich keine Verwirklichung der realen Vorlage, wenn der Schauspieler X Goethes Faust spielt, er schöpft aus seinem Sinn-Repertoire einen Faust, der durch den Schein des Moments eine Ahnung des Faust, vielleicht sogar eine Ahnung des Heinrich ermöglicht. Diese atmosphärischen Momente verzaubern, sie sind der Zauber des Theaters, der begeistert, affiziert, provoziert, jedenfalls eine sinnlich-leiblich-emotionale Reaktion im Zuschauer hervorruft.

Noch unbegreiflicher ist ein weiterer Zauber, der sich durch einen „durschauten Widerspruch“ (Seel 2000: 106) ausdrückt, wie Martin Seel eindrucksvoll erkannt hat. Sowohl die sogenannten schauspielernden als auch die zuschauenden Figuren wissen um die bewusste In-Szene-Setzung des Geschehens und sind doch gerade deshalb davon hingerissen. In einer Welt, die ihre Wirklichkeit gänzlich durch instrumentelle Werte herzustellen versucht ist, geraten Handlungen, die ihre Realisierung und ihren Zweck einfach so in sich selbst tragen, zusehends auf die Hinterbühne. Es ist erstaunlich, dass es doch noch Dinge gibt, die nicht deshalb getan werden, weil sie als Mittel zur Erreichung etwas Größerem dienen. Viel Lärm ist bereits erzeugt worden, in einer Welt, die stets Größeres will, aber nicht erkennen kann, was das Große ist. Viel Lärm um nichts. Das Theater ist groß, weil es als-ob ist: Theater wirft uns zurück in eine Welt, die durchzogen ist von Möglichkeiten. Niemand weiß, wie das Stück ausgeht, auch nicht wenn die Zuschauer_innen alle Aufführungen derselben Inszenierung am selben Sitzplatz mitverfolgen. Auch die Proben können sie besucht haben, immer aber ist es anders versinnlicht.

Eine Maske sein, in einem Spiel, das schwingt, zumindest im Blick auf die lateinische Wortherkunft des Begriffs Person, auch mit. Gerade das offenbart uns Theater: Publikum und Schauspieler_innen sind Personen, die sich nicht selbst verwirklichen, sondern vielmehr selbst in etwas hineinwollen, das es einer Ahnung nach schon gibt. Weder das Theater noch das Leben bringen Individuen auf die Bühne, sie erschaffen angepasste Figuren, die sich in Rahmen fügen, bewusst fügen wollen. Wie zauberhaft aber wäre ein Mensch, ein wahrhaftiger Mensch, der den Widerspruch seiner Person durschaut und diesen aushandelt, der als Konstrukteur von Unwirklichkeit den hegemonialen Konstrukteuren von Wirklichkeit Als-ob-Brücken zur Welt baut?

Die theoretischen Vorüberlegungen sind deshalb so ausführlich geworden, weil dem eigentlichen Thema mit Worten nicht gerecht zu werden ist. Umwege müssen beschritten werden, um  neue Perspektiven auf den vielfach preisgekrönten und mit Lob überhäuften Theatermacher Nikolaus Habjan aufzufinden. Habjan spielt derzeit am Schauspielhaus Graz das von Paulus Hochgatterer verfasste Stück „Böhm“. Was Habjan aus und mit dem Text von Paulus Hochgatterer macht, ist schier unaussprechlich. Dass Habjans Zugang zum Theater außergewöhnlich ist, seine Handhabung der Puppen oftmals die Illusion deren Metamorphose zu realen Personen erzeugt, steht außer Frage und ist an vielen Stellen schon angemerkt worden. Genie, Schöpferkraft, die Attribute für Habjans Theaterkunst sind stets Superlativen – berechtigterweise.

Nun hat er, dieser meisterhafte Habjan, aber noch einen Schritt getan. Denn was in „Böhm“ geschieht ist wahrlich meisterlich: Ein Puppenspieler auf der Bühne, der im Verlauf des Abends insgesamt elf Puppen (auch die neu konstruierten „Tischdiven“ kommen zum Einsatz) zum Leben erweckt, so die szenische Anordnung. Natürlich, es geht um Karl Böhm, den berühmten und international gefeierten aus Graz stammenden  Dirigenten, Generalsmusikdirektor und seit 1969 Ehrenbürger seiner Geburtsstadt. „Ein großer Künstler, aber politisch fatal Irrrender“, so versuchten die Salzburger Festspiele 2015  durch das Anbringen einer Erläuterungstafel vor dem Karl-Böhm-Saal die Vergangenheitsbewältigung mit diesem Musiker versöhnlich zu lösen. So der realhistorische Rahmen, der Habjan als Projektionsfläche zur Illustration der vielfältigen Zwischenräume von Person, Maske, Figur und Mensch dient. In dieser Hinsicht ist zudem ganz besonders die dramaturgische Finte von Hochgatterer hervorzuheben, der durch die Figur des alten Mannes eine ideale Voraussetzung zur Illustration der menschlichen Identitätskonstruktion erschafft. Dieser alte Mann erinnert sich, spricht begeistert von einer Dirigentenkarriere, der Clou aber ist: Es ist nicht Böhm, es kann Böhm sein, man weiß es nicht. „Ich glaube […], es wird ganz oft verwechselt, dass Dirigenten eigentlich Interpreten sind, nicht Schöpfer“, unterstreicht Habjan im Interview für das Programmheft diese Zugangsweise. Sowohl die Personen auf der Bühne als auch die das dort aufgeführte Spiel beobachtende Personen formen im Kollektiv eine mögliche Erinnerungsvariante; im Sinne, so könnte es gewesen sein.

Abgesehen von der – man muss es mit Nachdruck sagen – künstlerischen Meisterleistung Habjans, sollte man diese auch auf ihre theoretischen Voraussetzungen hin betrachten. Wer ist Schöpfer seiner selbst? Wer erschafft sich wie und mit welchen Mitteln? Habjans Puppen so betrachten wie Als-ob-Menschen, kann erkenntisreich sein, kann neue Resonanzräume erschaffen. Möglicherweise ein neuer, (noch) nicht wirlich beachteter Mosaikstein im Habjan-Panorama. Denn, wie heißt es nicht auch im Stück: „Manchmal beunruhigen auch Möglichkeiten.“

 

Programmheft Schauspielhaus Graz „Böhm“ (2018) von Paulus Hochgatterer. Premiere am 22.3.2018

Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. Carl Hanser: München.

 

Raffael Hiden